Begegnung mit dem HERRN

 

Erinnerungen und Gedanken Seines Jüngers Hellmuth Müller-Schlauroth

Mit dieser Niederschrift komme ich dem Wunsche vieler Kreuzträger nach, die mich schon seit langem darum gebeten haben. Soweit es sich um weit zurückliegende Ereignisse handelt, sind diese zum Teil aus der Erinnerung, zum anderen Teil unter Zuhilfenahme von Akten und Aufzeichnungen nie­dergeschrieben worden. Aus der Erinnerung habe ich nur das aufgezeichnet, was unverrückbar und klar in meinem Gedächtnis steht.

Anläßlich der Lilienfeier im September 1935 bin ich vom HERRN versiegelt worden. Unmittelbar nach der Feier ließ der HERR mich zu sich rufen. In einer fast zwei Stunden währenden Audienz erwies der HERR mir so unverkennbares Wohlwollen, daß ich das Empfinden hatte, in einer Fülle von Licht zu stehen. Während dieses Zusammenseins äußerte ich unter anderem, daß ich der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angehöre, nun aber die Absicht habe, aus dieser Partei auszutreten. Davon riet der HERR mir mit dem Bemerken ab, vielleicht könne es einmal im Interesse des Grals notwendig sein, durch den einen oder anderen in dieser Organisation vertreten zu sein.

Im Jahre 1936 wurde ich berufen und zur Feier des Strahlenden Sternes 1937 vom HERRN zum Jünger geweiht. In diesen Jahren hatte ich mehrere Male Gelegenheit, mich in behördliche Verfahren einzuschalten, in die der HERR durch Siedlungsbewohner verwickelt worden war; wenn ich in einer solchen Sache auf dem Berge weilte, dann war ich stets Gast im Hause des HERRN.

Am 12. März 1938 um 5 Uhr morgens brachte der Rundfunk die Nachricht, daß die deutsche Wehrmacht die Grenze gegen Österreich überschritten habe, das Bundesland Österreich dem Deutschen Reich angegliedert und damit das Ziel „Groß-Deutschland" Wirklichkeit geworden sei. Diese Nachricht löste sofort ernste Bedenken für das weitere Schaffen des HERRN und den Fortbestand der Gralssiedlung auf dem Vomperberg in mir aus. Meine Befürchtungen bestätigten sich leider sehr bald; bereits am 12. März, in den späten Nachmittagsstunden, rief Fräulein Irmingard vom Berge telefonisch bei mir in Schlauroth an und teilte mir mit, daß der HERR soeben von Leuten verhaftet und im Beiwagen eines Kraftrades nach Innsbruck gebracht worden sei. Mit dem nächsten D-Zug - es war gegen 22 Uhr - reiste ich von Görlitz ab und traf am 13. März gegen 12 Uhr auf dem Berge ein.

Hier erfuhr ich von den Damen, daß sich der HERR im Polizeigefängnis in Innsbruck befinde und daß ein SS-Kommissar namens Hilliges für die Siedlung auf dem Berge als verantwortlicher Beauftragter eingesetzt worden sei.

Unter den Bewohnern der Siedlung war, wie die Damen berichteten, ein kopfloses Durcheinander ausgebrochen. Nicht einer von ihnen hatte wenigstens den Versuch unternommen, den SS-Leuten, die die Verhaftung durchführten, die Unsinnigkeit ihres Beginnens klarzumachen oder wenigstens dafür zu sorgen, daß der HERR eine korrekte Behandlung erfahre. Alle hatten tatenlos, ohne den geringsten Protest zu erheben, umhergestanden oder waren überhaupt unsichtbar geblieben.

Am 14. März begab ich mich nach Innsbruck, um mit Kommissar Hilliges Verbindung aufzunehmen; ich hoffte, bei ihm die Freilassung des HERRN zu erreichen. Zunächst wurde mir kein sehr freundlicher Empfang zuteil, denn die unglaublichen Anwürfe und Beschuldigungen waren gegen den HERRN und die Gralssiedlung, zum Teil aus der einheimischen Bevölkerung, zum Teil aber auch von sogenannten Anhängern der Gralsbotschaft in Umlauf gesetzt worden. Ja, ich traf sogar eine Gralsanhängerin dort an, die gerade Anzeige gegen Fräulein lrmingard erstattete. Die Anwesenheit dieser Frau L. machte ich mir zunutze, um gegen alle Verleumder des HERRN vorzugehen und diese mit scharfen Worten anzuprangern. Es war günstig, daß ich gerade hier, an oberster Stelle der Geheimen Staatspolizei Innsbruck, auf frischer Tat den Verleumder der Verwerflichkeit seines Tuns überführen konnte. Das machte auf den Kommissar Eindruck; die Entgegennahme der Anzeige gegen Fräulein Irmingard wurde abge­lehnt. Meine alte Zugehörigkeit zur NSDAP kam mir hier natürlich sehr zustatten. Eine sofortige Entlassung des HERRN konnte ich jedoch nicht erreichen. Kommissar Hilliges sagte mir lediglich zu, meinen Protest weiterzugeben. In den nächsten Tagen komme er auch selber nach Vomperberg. Die Siedlung allerdings bliebe beschlagnahmt. Im Interesse des Herrn Bernhardt und seiner Familie liege es, die Bewohner zur Räumung der Siedlung zu veranlassen. Auch die Familie des Herrn Bernhardt müsse die Wohnung räumen; ich erreichte aber schon damals, daß ihre Möbel und ihr Hausrat, sowie ihr persönlicher Besitz von der Beschlagnahme freiblieben, ebenso auch das persönliche Eigentum der anderen Siedlungsbewohner.

Am nächsten Tage habe ich sämtliche Bewohner der Siedlung im Speisesaal zusammengerufen und ihnen berichtet, was mir in Innsbruck eröffnet worden war. Ich bat alle Anwesenden, die Siedlung baldigst zu verlassen. Kommissar Hilliges war am Nachmittag erschienen und wiederholte den nochmals versammelten Siedlungsbewohnern gegenüber das, was er mir bereits am Vortage gesagt hatte.

Für die Damen und Herrn Alexander konnte ich erwirken, daß diese noch so lange in ihrem Hause bleiben durften, bis für die Möbel und den Hausrat ein Unterkommen gefunden war. Auch den Kraftwagen, in dem für Herrn Alexander wegen seiner Körperbehinderung eine besondere Schaltung eingebaut war, konnte ich von der Beschlagnahme ausschließen.

Auf dem Altar in der Andachtshalle stand noch die Gralsschale; auch die Altardecke lag dort, und neben dem Sitz des HERRN befand sich die Gralsfahne. In der Verängstigung, die um sich gegriffen hatte - inzwischen waren 40 SS-Männer als Besatzung auf dem Berg erschienen - konnte keiner sich ent­schließen, diese Gegenstände an sich zu nehmen. Ich habe es dann einfach bei hellem Tage getan und alles mit nach Schlauroth genommen, um es dort zu verwahren. Heute werden die Altardecke, die Gralsschale und die Fahne weiter bei den Feiern auf dem Berge verwendet; kaum einer erinnert sich noch daran, welche Fluchtwege sie gemacht haben.

In einer weiteren Verhandlung mit Kommissar Hilliges bedeutete er mir, daß es sicher größere Aussicht auf Erfolg hätte, wenn ich, um die Haftentlassung des Herrn Bernhardt zu erreichen, direkt in Berlin im Hauptamt des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, vorstellig würde. Da die Räumung der Siedlung rasch vorwärtsging, reiste ich heim, um den Vorstoß in Berlin einzuleiten.

Als sicher hatte ich in Innsbruck festgestellt, daß es rein polische Gründe waren, die die „Schutzhaft' des HERRN ausgelöst hatten. Ermittelt hatte ich noch, daß der HERR mit dem ebenfalls in Schutzhaft genommenen Landeshauptmann von Tirol in ein und derselben Zelle untergebracht war.

Von all den Bewohnern der Siedlung hatte sich keiner bereit gefunden, mich in Innsbruck zu unterstützen. Auch Bekenner der Gralsbotschaft, die in Tirol einheimisch waren, haben sich damals nicht auf dem Berg sehen lassen, geschweige denn für den HERRN bei der Geheimen Staatspolizei sich eingesetzt. Ganz offenbar herrschte unter ihnen damals (wie auch heute noch) der mystisch-schwärmerische, ja überhebliche Gedanke vor, daß der „Lichtschacht", unter dem der Berg und seine Bewohner stehen, dem Dunkel ohne menschliches Zutun den Zugriff wehre, und daß das Licht allein alles wieder in Ordnung ringe. Ein Trugschluß, eine Trägheitsbeschönigung, gegen die der HERR immer wieder ankämpfte, die aber von Schwärmern und Phantasten hartnäckig festgehalten wird.

Meine Heimreise legte ich über Berlin, um mit meinem Freunde Rechtsanwalt Karl Linckelmann und mit Dr. Kurt Illig, damals grüner Ritter, die Lage zu besprechen. Hier waren fast zu gleicher Zeit einige Mitglieder des Berliner Gralskreises, des damaligen Naturphilosophischen Vereins, von der Geheimen Staatspolizei, vernommen, und einige auch vorübergehend verhaftet worden. Auch mein Freund Karl Linckelmann war vernommen und verwarnt worden. Dieser konnte sich also für en HERRN nicht weiter einsetzen, als er es in seiner Aussage bei der Vernehmung bereits getan hatte. Dr. lllig hingegen war unbehelligt geblieben. Auf Grund seiner einflußreichen Stellung bei Siemens hatte er Beziehungen zu einigen höheren SS-Leuten der Geheimen Staatspolizei (von jetzt an Gestapo genannt). Wir hatten einige Zusammenkünfte mit diesen Herren, aber zu einem Erfolg kam es nicht. Im Gegenteil, Dr. Illig teilte mir nach einigen Wochen mit, daß er von einem dieser Männer gewarnt worden sei, weiter in Sachen Bernhardt sich zu verwenden. Herr Dr. Illig erklärte mir wörtlich: „Wir müssen den HERRN als verloren aufgeben, wir haben ja Seine Botschaft; mir ist auf Umwegen mitgeteilt worden, daß wir beide kurz vor unserer Verhaftung stehen." Darauf erklärte ich, daß ich nicht aufgeben, sondern allein weiterkämpfen werde, bis ich den HERRN frei habe.

Von irgendwo hatte ich erfahren, daß die Schwester von Rudolf Heß, dem Stellvertreter Hitlers, bei Dr. Friedrich Noack in Potsdam gesellschaftlich verkehre und besonders mit Frau Noack befreundet sei. Die Eheleute Noack waren Grals­anhänger, allerdings erst seit kurzer Zeit. Mit Dr. Noack war ich außerdem von früher bekannt. Ich bat Dr. Noack, mir eine Zusammenkunft mit Fräulein Heß in seinem Hause zu ermöglichen, damit ich sie bitten könne, mir eine Besprechung in Sachen des HERRN mit Himmler zu vermitteln. Er war dazu bereit; Ende April kam das Treffen zustande. Fräulein Grete Heß verhielt sich zunächst sehr zurückhaltend, weil ihr Bruder „ohnehin von allen Seiten bemißtraut würde" und es daher ablehne, in schwebende Verfahren einzugreifen. Nachdem ich ihr aber das absolut Unpolitische der Botschaft dargetan und die Lauterkeit des HERRN in aller Sachlichkeit geschildert hatte, erklärte sie sich bereit, sich wenigstens nach der Sache zu erkundigen.

Anfang Mai, kurz nach der Zusammenkunft mit Fräulein Heß, reiste ich nach Tirol, um zu versuchen, zum HERRN, der immer noch im Polizeigefängnis Innsbruck saß, vorzustoßen. Das gelang mir dann auch über den Kommissar Hilliges. Der HERR wurde aus der Zelle geführt bis an ein schweres Eisengitter, das vom Fußboden bis zur Decke reichte und aus 2-3 cm starken Eisenstäben bestand. Durch dieses Eisengitter konnte ich mit Ihm sprechen. Ich sagte, daß ich weiter bemüht sei, Ihn freizukämpfen, Er möge noch einige Zeit ausharren, es böten sich Hoffnungen. Der HERR war sehr niedergeschlagen. Er durfte keinen Kragen tragen, Er wurde damals wie ein Strafgefangener behandelt. Er litt offensichtlich unter dem rauhen Umgangston der Wärter. Trotzdem kam keine Klage über Sei­ne Lippen. Nach 15 Minuten wurde mein Besuch von dem Wärter, der die ganze Zeit mit der Uhr in der Hand unmittelbar neben uns gestanden, also jedes Wort mitgehört hatte, jäh abgebrochen.

In den folgenden Tagen war ich bestrebt, die Möbel der Herrschaften vom Berge abholen zu lassen. Damals hatten ja viele Menschen Bedenken, ja Furcht, zur Gralssiedlung in Beziehung treten. (Die Nachricht von der Verhaftung des HERRN und der Beschlagnahme der Gralssiedlung durch die Gestapo hatte sich wie ein Lauffeuer in ganz Tirol verbreitet.) Schließlich gelang es aber, die Möbel bei einer lnnsbrucker Speditionsfirma unterzustellen. Da ich diesmal mit meinem Wagen in Tirol war, nahm ich auf der Rückfahrt nach Schlauroth die Damen bis München mit. Dort wurden sie, wenn ich mich recht erinnere, von Frau Luft aufgenommen. Herr Alexander war meiner Erinnerung nach bereits mit seinem Wagen auf dem Gute von Frau von Martius, wo er sich abwartend aufhalten sollte.

Anfang Juli 1938 erhielt ich eine Aufforderung von dem Geheimen Staatspolizeiamt Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, in Sachen Oskar Ernst Bernhardt, Vomperberg/Tirol, zu erscheinen. Mit dem Morgen-D-Zug reiste ich gegen 6 Uhr ab. Dr. Hütter, Görlitz, den ich von meiner Vorladung telefonisch verständigt hatte, war am Bahnhof erschienen, um mich zu verabschieden und mir in meiner Mission Kraft zuzusprechen; ich sei doch nun mal der einzige, der solchen Dingen gewachsen sei, sagte er. In Berlin angekommen, begab ich mich zunächst zu meinem Freund Karl Linckelmann, um mit ihm die Lage noch einmal zu besprechen. Er sagte mir keinen guten Empfang voraus; er war vielmehr fest überzeugt davon, daß ich an Ort und SteIle verhaftet würde; seine Frühstücksbrote schob er mir schnell noch in meine Aktentasche.

Um 10.30 Uhr war ich vorgeladen. An der Tür des Zimmers stand: „Logen und logenähnliche Verbände". Nach der Feststellung meiner Personalien wurde ich dem Stellvertreter von Himmler gegenübergestellt. Das war auf Veranlassung von Grete Heß geschehen; ohne deren Fürsprache wäre ich sicher nicht so weit vorgedrungen. Die Vernehmung - sie war mehr eine Rücksprache - nahm etwa folgenden Verlauf:

Er: Wie können Sie sich als alter Parteigenosse für einen Mann wie den Bernhardt einsetzen?

Ich: Warum nicht? Herr Bernhardt ist ein vorzüglicher Schriftsteller, verfügt über ein weites Wissen, und was er schreibt, stiftet nur Frieden und Segen.

Er: Seine Schriften sind staatsfeindlich, und außerdem versucht er, Menschen finanziell auszunutzen, ja zu betrügen.

Ich: Staatsfeindlich? Ich kenne alle seine Schriften und weiß, daß sie nichts weniger als das sind. Herrn Bernhardt liegt alles Politische fern. Und was die Ausnutzung und die Betrügereien anlangt, so ist das die alte Tour, auf die ehemalige Anhänger Rache zu nehmen suchen, weil sie sich in ihrer Hoffnung enttäuscht sehen, über Herrn Bernhardt irgendwelche eigenen Vorteile zu erlangen.

Er: Auf alle Fälle ist aber die Gralsgemeinschaft eine Sekte, und für solche Dinge ist im nationalsozialistischen Staat kein Raum.

Ich: Sie irren sich in diesem Falle gewaltig. Die Menschen, die auf dem

Vomperberg wohnen, sind keine Sektierer. Die Siedlung ist entstanden aus dem Wunsche der Menschen, die sich durch Herrn Bernhardts Schriften angezogen fühlten und gern in seiner Nähe leben wollten.

Er: Ganz egal, wie dem auch sei, vor allem aber - und das ist das Entscheidende - Bernhardt ist Jude!

Ich: (laut lachend): Wenn Bernhardt Jude ist, dann sind Sie und ich es auch! Ich kenne sein Elternhaus in Bischofswerda in Sachsen, unweit meines Hofes bei Görlitz. Sein Vater war Weißgerber und betrieb neben seinem Handwerk noch ein Gasthaus, seine Mutter stammte von einem Bauernhof in der Umgebung von Bautzen. Also, diese Behauptung trifft entschieden ins Leere, und wenn sie das Entscheidende ist, dann müßte Herr Bernhardt sofort auf freien Fuß gesetzt werden.

Er: Sie sind eigentlich von einer ziemlichen Unverfrorenheit. Sie wissen wohl gar nicht, daß Sie Ihre Freiheit aufs Spiel setzen?

Ich: Wieso? Leben wir denn in einem Staat, in dem man nicht die Wahrheit sagen darf? Das wiederum glaube ich nicht. Die Argumente, die Sie gegen Herrn Bernhardt vorgebracht haben, kann ich glatt widerlegen. Wenn aber Herr Bernhardt in seinen Schriften in der Tat jemanden angegriffen hat, dann sind das höchstens die Kirchen beider Konfessionen, und das mit Recht. Ich kann mir aber nicht denken, daß Sie das beanstanden, denn die Kirchen vertreten Sie doch wohl hier nicht? Aus diesem Grunde erbitte ich die Freilassung von Herrn Bernhardt aus der Haft. Ich verbürge mich für ihn und bin auch bereit, ihn bei mir auf meinem Hofe in Schlauroth, Kreis Görlitz, aufzunehmen.

Er: Nun gut, ich werde das überlegen und besprechen. Sollte Herr Bernhardt aber freigelassen werden, dann nur unter den Bedingung, daß Sie mit Ihrem Leben und mit Ihrem Vermögen dafür haften, daß Bernhardt nicht flüchtig wird. Sie erhalten weitere Nachricht schriftlich.

Damit war ich entlassen.

Anfang August wurde mir über das Geheime Staatspolizeiamt Görlitz mitgeteilt, daß Herr Bernhardt entlassen würde gegen eine persönliche Bürgschaft. Herr Bernhardt könne wählen zwischen einer Unterkunft in Igls bei Innsbruck oder in Schlauroth auf meinem Hofe. Mit dieser Nachricht fuhr ich nach Innsbruck, wo ich mit den Damen zusammentraf und wir den HERRN gemeinsam im Polizeigefängnis aufsuchten. Diesmal wurde der HERR durch eine kleine Tür, die sich in der hohen Gitterwand befand, und die ich das erste Mal gar nicht bemerkt hatte, zu uns herausgeführt. Auch der Gefängniswärter zog sich diesmal zurück; wir konnten frei sprechen. Ich teilte dem HERRN, der unter der langen Haft sichtlich gelitten hatte, mit, daß Er demnächst entlassen würde. Er könne gar entscheiden, ob er nach IgIs oder nach Schlauroth entlassen werden wolle. Der HERR war überraschend kurz entschlossen und sagte wörtlich: „Wenn es keine unbescheidene Bitte ist, dann möchte ich zu Ihnen nach Schlauroth." Diese unmittelbare, freie Entscheidung war für mich eine große Freude und Ehre zugleich. Ich fuhr schnellstens nach Schlauroth zurück und gab die Entscheidung des HERRN an die Gestapo in Görlitz weiter.

Als erster traf Herr Alexander in Begleitung von Walter Fox mit seinem Wagen in Schlauroth ein. Walter Fox war als Arbeiter in der Siedlung auf dem Vomperberg tätig gewesen. Er war Herrn Alexander als Begleiter zur Seite gestellt. Da es auf meinem Hofe viel Arbeit gab, blieb er, natürlich gegen volle Entlohnung, als Arbeiter bei mir. Herrn Alexanders Wagen war vollgepackt mit Koffern und sonstigem Reisegepäck der Herrschaften.

Am Freitag, dem 9. September 1938, trafen der HERR und die Damen gegen 18 Uhr in Görlitz ein. Herrn Dr. Hütten hatte ich von der bevorstehenden Ankunft verständigt, so daß er sich neben mir auf dem Bahnhof zum Empfang eingefunden hatte. Wir entdeckten den HERRN und die Damen unter den ankommenden Reisenden sofort. Der HERR war sichtlich erregt. Nach kurzer Begrüßung sagte Er zu mir: „Es ist ein Wunder geschehen, ich danke Ihnen. Aber kommen Sie, wir wollen schnell hier weg." Ganz offenbar stand der HERR noch sehr unter dem Druck der Gefängnisatmosphäre und glaubte wohl, daß Kommissare der Gestapo Seine Ankunft überwachten. Das war aber nicht der Fall. In Schlauroth angekommen, führten wir die Herrschaften zunächst auf ihre Zimmer.

Mein Gutshaus in Schlauroth war ein alter Bau aus der Zeit Augusts des Starken, Königs von Sachsen und Polen, der auf seinen Reisen zwischen Dresden und Warschau hier Station machte. Es war also ca. 250 Jahre alt und etwa schloßähnlich gebaut. Es war zwei Stockwerke hoch und hatte 13 Zimmer, eine große Gutsküche und reichlich Nebengelaß. Die beiden Fremdenzimmer wurden dem HERRN, Frau Maria und Fräulein Irmingard überlassen; Herr Alexander war in einem Nebengebäude untergebracht. Die Wohn- und Gesellschaftsräume, wie Speisezimmer, Musikzimmer, Damensalon, standen den Herrschaften selbstverständlich ständig zur Mitbenutzung offen. Mein Herrenzimmer stellte ich dem HERRN als Arbeitszimmer zur Verfügung.

Zum Empfang war eine festliche Tafel bereitet, an der auch Herr Dr. Hütten teilnahm. Mit einer kleinen Ansprache entbot ich den Herrschaften den Willkommensgruß. Der HERR erwiderte mit nochmaligem Dank und sagte zum Schluß wörtlich:

„Ich bin der Menschen so völlig überdrüssig, daß ich mit keinem mehr in Berührung kommen möchte. Ich will nur noch über Sie mit diesen verhandeln, und ich bitte Sie, mir alle fernzuhalten." Diese Äußerung war für mich ein Auftrag. Ich verstand sie als einen Ausdruck der tiefen Enttäuschung des HERRN über die Niedrigkeiten. Verleumdungen und Anschuldigungen, die vorwiegend aus den Reihen ehemaliger Bekennen seiner Botschaft gegen Ihn vorgebracht worden waren und die wohl - neben der Feindschaft der katholischen Kirche - der unmittelbare Anlaß zu Seiner Verhaftung gewesen waren. Denn auch die Behauptung, daß der HERR Jude sei, kam aus diesen Reihen.

Von der Gestapo in Görlitz war mir mitgeteilt worden, daß allmonatlich einer ihrer Beamten nach Schlauroth kommen würde, um die Anwesenheit von Herrn Bernhardt festzustellen. Das ist wohl ein- oder zweimal geschehen, dann ist es unterblieben; ich war den Beamten durch meine gesellschaftliche Stellung bekannt und hatte ihr volles Vertrauen.

Die täglichen Mahlzeiten nahmen wir mit den Herrschaften gemeinsam ein. Im Anfang geschah das im Speisezimmer, das im ersten Stock des Hauses lag. Wir hatten aber auch im Erdgeschoß noch einen Speiseraum unmittelbar neben der Gutsküche, der auch als täglicher Wohnraum benutzt wurde. Das hatte der HERR nach kurzem Einleben erkannt. Er bestand darauf, daß fortan in diesem Raume gegessen wurde, um alles einfacher zu gestalten und um keinesfalls unsere Gewohnheiten durch Seine Anwesenheit zu ändern.

Aber nicht nur während der Mahlzeiten, bei welchen der HERR zu meiner Rechten saß, war ich mit Ihm zusammen, sondern oftmals schloß Er sich mir bei meinen Gängen über meine Felder an. Dieses Gehen durch die Natur mit dem HERRN war für mich Fundgrube des Erkennens und Verstehens Seines Wortes, wie es vielleicht keinem anderen in dieser Weise dargeboten worden ist. Ein besonders schönes Erlebnis hatte ich Pfingsten 1939. Am Pfingstsonntag morgen hatten der HERR und ich einen Spaziergang durch meine Felder gemacht. Der Roggen hatte gerade die Ähren hervorgebracht. Der HERR trat dicht an den Rand des Roggenfeldes heran, umschlang mit beiden Armen eine große Menge Roggenhalme, ließ die Ähren langsam durch Seine in segnender Stellung gehaltenen Hände gleiten und sagte: „Kein Pfingsten geht ins Land, da dir nicht reichet der Roggen die Hand!" Oft hat der HERR mich bei unseren Gängen über Feld und Flur und gelegentlich mancher gemeinsamen Autofahrt Einblicke nehmen lassen in das Wirken der kleinen und großen Wesenhaften. Diese Einblicke bleiben mir unvergeßlich; es sind Meilensteine in meinem Leben, die nie ihren Standort wechseln werden.

Der HERR war stets die Natürlichkeit, die Einfachheit und die Klarheit in Vollkommenheit. Sein universelles Wissen, vor dem man nur in tiefer Demut staunend stehen konnte, war nicht nur geistiger Art, sondern auch in vielen praktischen Dingen und Berufen war Er so erfahren, als ob Er sie selbst ausgeführt hätte. Der HERR wies alles mystische Getue weit von sich, selbst dann, wenn Er Handlungen ausführte, die für uns unbegreiflich waren und im Mystischen lagen. (Auf zwei solcher Handlungen komme ich noch zu sprechen.)

Anläßlich solchen Alleinseins mit Ihm - ja, ich möchte fast sagen, nur dann, wenn kein Dritter zugegen war - habe ich tief empfunden, daß der HERR von einer ganz anderen Ebene kommt als wir Menschen. Daß Er weit und hoch über uns ist. Doch nicht nur in der Empfindung, auch verstandesmäßig wurde mir klar, daß Er der HERR ist, der Menschensohn! Aber auch im täglichen Leben und Umgang mit Ihm fernstehenden, fremden Menschen war der HERR von so natürlicher Einfach­heit und vornehmer Zurückhaltung, die jedem, ob er wollte oder nicht, Achtung abforderte. Er war Edelmann im wahrsten Sinne dieses Wortes. Das schreibe ich nieder, frei von jedweder Mystifikation und Glorifikation. Ich schreibe es nieder, obwohl ich, wahrscheinlich mehr als sonst jemand, eingehende Kenntnis habe von all der Niedertracht, Verleumdung und Bosheit, mit denen man den HERRN beworfen hat und Ihn mundtot zu machen suchte.

An den langen Winterabenden hat der HERR oft aus Seinen Bühnenwerken vorgelesen und vieles von Seinen Reisen erzählt. An diesen Abenden nahmen auch unsere Hausangestellten teil. Eine besondere Freude für den HERRN war es, wenn meine Eltern uns besuchten. Meine Mutter hatte die Gabe, fesselnd und fröhlich zu erzählen und auch Erlebnisse aus ihrem Leben anschaulich zu schildern. Darum bat sie der HERR, sooft sie zu uns kam. Dies erklärte der HERR mir einmal damit, daß Ihn meine Mutter so ungemein stark an die Seine erinnere; Er sagte, wenn Er die Augen schlösse, meinte Er, Seine Mutter sei es, die erzählte. So gäbe es der persönlichen Erlebnisse mit dem HERRN während Seiner Schlaurother Zeit noch viele, die festzuhalten wert wären. Doch soll nur über zwei besondere Geschehnisse, die ich bereits andeutete, noch berichtet werden.

Ich sagte schon, daß das Schlaurother Gutshaus etwa 250 Jahre auf dem Rücken hatte. Im Erdgeschoß waren durchweg große Räume, deren Decken aus schweren Tonnengewölben gebildet waren. Im ersten Stock war nur ein verhältnismäßig kleiner Raum spitzbogenartig gewölbt, die anderen Zimmer hatten hatte Decken, die mit Stuck versehen waren. Der kleine, gewölbte Raum diente uns als Musikzimmer; in früheren Jahrhunderten war er die Hauskapelle gewesen.

Schon bald, nachdem ich Schlauroth übernommen hatte (also 1919, noch 15 Jahre bevor ich den HERRN und Seine Botschaft kennenlernte), hatte ich jedesmal, wenn ich allein im Musikzimmer war und Klavier spielte, den Eindruck, daß jemand, kurz nachdem ich zu spielen begonnen hatte, in das Zimmer gekommen wäre. Wenn ich mich umdrehte, war niemand da. Wenn ich mich nicht umdrehte und weiterspielte, fühlte ich beinahe körperlich, daß der Hereingekommene sich hinter mich stellte, und wenn ich dann noch nicht zu spielen aufhörte, merkte ich, daß er sich in einen Lehnstuhl neben dem Klavier setzte. Ich hörte sogar das leise Knistern des Lehnstuhls, der aus Peddigrohr geflochten war. Damals hatte ich einen ausnehmend treuen Hund, der kaum von meiner Seite wich, aber in das Musikzimmer nur äußerst ungern mitkam und stets den ersten Augenblick, in dem er sich unbeobachtet fühlte, benutzte, um es wieder zu verlassen und im angrenzenden Speisezimmer auf mich zu warten. Von diesen Wahrnehmungen erzählte ich zunächst niemandem, bis ich feststellte, daß meine damals achtjährige Stieftochter für ihren Klavierunterricht kaum übte. Ich erfuhr, daß Inge nicht allein ins Musikzimmer gehe, weil sie, kurz nachdem sie die Tasten angeschlagen hätte, immer das unheimliche Gefühl habe, daß irgendwer das Zimmer betrete; wenn sie sich dann umschaue, wäre aber niemals jemand da. Einige Jahre später erlebte einer meiner Vettern - von Beruf Lehrer und Organist - das gleiche, als er Klavier spielte und allein im Zimmer war. Dieser Vetter nun war Anthroposoph; er fühlte sich medial veranlagt, und zwar war er -so sagte er- ein sogenanntes Schreibmedium. Die folgende Nacht verbrachte er auf seinen Wunsch im Musikzimmer. Am anderen Morgen zeigte er mir seine Aufzeichnungen, aus denen zu lesen war, daß in diesem Zimmer ein Geist erdgebunden wäre, weil er hier ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt und danach getötet hätte. Nach seinem Namen gefragt, hatte der Geist den Namen „Edler von Schlauroth" genannt. Diesen Namen hatte ich nie gehört, eine Chronik des Gutes war nicht vorhanden, und die alten Schöffenbücher der Gemeinde waren unvollständig und wiesen große Lücken auf. Wiederum eine Zeit später erzählte mir eine Gärtnersfrau aus Schlauroth, ohne von der Aufzeichnung meines Vetters das geringste zu wissen, daß sie in Görlitz auf dem alten Nikolaifriedhof einen verwitterten Grabstein an der Außenwand der Kirche mit dem Namen „Edler von Schlauroth" entdeckt habe. Am nächsten Tag suchte ich den Grabstein auf, der Name stimmte, eine Jahreszahl war leider nicht mehr zu erkennen; auch der Pfarrer der Kirche konnte keine näheren Angaben machen.

Dieses alles erzählte ich eines Winterabends dem HERRN, mit dem wir in unserem Speisezimmer zusammensaßen. Der HERR war meiner Schilderung mit großem Interesse gefolgt. Er erhob sich, schritt auf die Tür des Musikzimmers zu und sagte:

„Bitte, lassen Sie mich zwanzig Minuten in dem Musikzimmer allein." Nach dieser Zeit setzte sich der HERR wieder zu uns und sagte: „Dieser erdgebundene Geist stört nun niemand mehr. Ich habe ihn erlöst." Und in der Tat, nie wieder habe ich diese ungewöhnlichen Wahrnehmungen gemacht, ebenso weder meine Stieftochter noch mein Vetter. Der HERR selbst war dabei unverändert, ohne jede Spur einer Erregung geblieben. Er hatte diesen Vorgang behandelt wie eine völlig selbstverständliche, alltägliche Begebenheit.

Die zweite für uns Menschen unbegreifliche Handlung nahm der HERR bei einer Erkrankung von Walter Fox vor. Folgendes hatte sich zugetragen: Fox hatte die Angewohnheit, beim Hantieren mit Getreide Körner in den Mund zu nehmen und zu zerkauen. Das hatte ich des öfteren beobachtet und ihm gesagt, daß er sich dadurch sehr leicht eine Strahlenpilzerkrankung zuziehen könne, die meist tödlich verlaufe, da das Wachstum des Pilzes nur selten einzudämmen sei. (Es gab da­mals noch keine Antibiotika und Sulfonamide.) Fox ließ jedoch von seiner Gewohnheit nicht ab. Eines Tages hatte er Beschwerden im Mund und ging zum Arzt. Er kam sehr kleinlaut wieder und sagte, der Arzt hätte eine Strahlenpilzinfektion festgestellt; morgen müsse er ins Krankenhaus. Dies erzählte ich am Abend dem HERRN, mit dem ich in Seinem Arbeitszimmer zusammengetroffen war. Darauf der HERR: „Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser." Ich brachte es und stellte es auf den Tisch. Der HERR schob es in die Mitte des Tisches, stand auf und trat dicht an den Tisch heran. Er erhob Seine Hände über das Glas und legte wie im Gebet die Handflächen aneinander. Und nun sah ich, wie ein goldener Strahl sich mitten in das Glas senkte und das Wassersich langsam um diesen Strahl zu drehen begann. Immer schneller wurde die Drehung, immer schneller, bis sich ein kleiner Trichter in dem Wasser gebildet hatte. Nun ließ der HERR Seine segnenden Hände sinken, die Drehbewegung des Wassers ließ nach, und es war sehr bald wieder ruhig wie zuvor. Dann gebot der HERR mir so, als ob sich nichts Besonderes ereignet hätte: „Geben Sie dieses Glas Wasser Walter Fox; er soll es austrinken. Bleiben sie aber bei ihm, daß er es auch tut." So' tat ich. Am nächsten Morgen beeilte sich Fox, in das Krankenhaus nach Görlitz zu kommen. Gegen 12 Uhr- ich denke, ich traue meinen Augen nicht - steht Fox vor mir und berichtet: „Ich bin von zwei Ärzten untersucht worden; beide haben gesagt, daß von einer Strahlenpilzinfektion nichts zu sehen sei. Das haben sie dem Arzt, bei dem ich gestern war, telefonisch mitgeteilt, der mich daraufhin wieder zu sich bestellt hat. Auch er konnte von der Erkrankung nichts mehr sehen." Walter Fox war so auf wunderbare Weise von diesem gefährlichen Schmarotzer befreit; er ist noch mehrere Jahre bei mir geblieben und später in seine Heimat, Westfalen, zurückgekehrt.

Alle diese für uns Menschen ins Wunderbare gehenden Handlungen mit schier wunderbaren Erfolgen wurden von dem HERRN in einer Gelassenheit ausgeführt, als wären es die selbstverständlichsten Dinge der Welt. Alles geschah einfach, beinahe zu einfach. So einfach, wie es nur Er, der HERR tun konnte. Eben, weil Er das Wort war, das Wissen und die Wahrheit.

Wenn ich auf diese persönlichen Kontakte eingegangen bin, so nur aus dem Grunde, um allen denen, die das große Glück, den HERRN hier in der Stofflichkeit erlebt zu haben, nicht hatten oder nicht mehr haben können, ein Bild Seiner Persönlichkeit zu geben. Darüber hinaus will ich aber auch mit diesem Be­richt all den ins Phantastische und Nebelhafte gehenden Schwärmereien entgegentreten, die leider bei vielen Bekennern der Gralsbotschaft sich eingebürgert haben. Nur zu oft stoßen sich Außenstehende an solchen Schwärmereien und lehnen um ihretwillen die Botschaft ab.

Es konnte mir nach einiger Zeit im täglichen Zusammensein mit dem HERRN nicht entgehen, daß Er an manchen Tagen bedrückt war. Diese zeitweilige Niedergeschlagenheit hatte ihren Grund darin, daß der HERR keine eigenen, aus einem Erwerb fließenden Einnahmen mehr hatte. Der Vertrieb Seiner Bücher war verboten, die Siedlung auf dem Vomperberg beschlagnahmt. Unterstützungen in barem Gelde, wie sie Ihm von Kreuzträgern angeboten worden waren, in Empfang zu nehmen, ohne dafür eine Gegengabe bieten zu können, lehnte Er ab.

Aus diesem Grunde hat der HERR von Schlauroth aus Vorstöße bei einigen Schauspielhäusern unternommen, Seine fertig daliegenden Bühnenwerke unterzubringen. So erinnere ich mich eines Versuches in Dresden. Wir fuhren mit meinem Wagen dorthin; auch Frau Maria und Fräulein Irmingard waren dabei. Der HERR hatte in Dresden einen Bekannten aus früherer Zeit, der inzwischen Intendant an dem weltbekannten Zirkus Sarrasani geworden war. Nachdem wir ihn in seiner Woh­nung nicht angetroffen hatten, fuhren wir zum Zirkus und kamen dort in einen Wirbel von Zirkusreitern, Dompteuren und hemmungslos durcheinanderschreienden Menschen, unter denen wir nach längerem Suchen auch den Intendanten fanden. Mir war die turbulente Situation ein wenig peinlich, dem HERRN machte das aber gar nichts aus. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, daß Ihm den Betrieb dort Vergnügen bereitete. Wahrscheinlich freute es Ihn, etwas ungekünstelt Natürliches zu erleben, das sich so gibt, wie es eben ist. Der Intendant konnte sich des HERRN wohl noch erinnern, doch verlief die Unterredung leider ergebnislos, ebenso wie die Vorstöße an anderen Theatern. Natürlich hatte der HERR nur gehofft, der Intendant werde seine weiteren Verbindungen für Ihn einsetzen; zur Aufführung im Zirkus eigneten sich die Bühnenwerke des HERRN freilich nicht.

Weil der HERR stets den Ausgleich suchte und immer bestrebt war, zu helfen, wo es Ihm möglich war, veranlaßte Er mich, Herrn Alexander mit der Führung des Iandwirtschaftlichen Tagebuches und der Lohnabrechnung meines Betriebes zu betrauen.

Weisungsgemäß habe ich alle Besuchen, die versuchten, erneut an den HERRN heranzukommen, mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Sehr bald wurde jedoch deutlich, daß dies den Damen und auch Herrn Alexander nicht zusagte. Der HERR - das empfand ich genau - fühlte sich in meinem Hause geborgen und sicher, den Damen hingegen erschien das Leben darin zu beengt. Sie suchten Verbindung mit anderen Gralsanhängern, so auch mit Herrn Giesecke in Berlin. Herr Giesecke war Inhaber der Berliner Wagenachsenfabnik mit einem Zweig­werk in Großenhain/Sa. und besaß außerdem - sozusagen als Refugium - in Kipsdorf im Erzgebirge eine kleine Landwirtschaft und ein dicht daneben liegendes Villengrundstück. Das letztere stellte Herr Giesecke, mit Ausnahme eines Zimmers, das er sich und seiner Frau zu eigenen Verwendung vorbehielt, en Herrschaften zur Verfügung. An mir lag es nun, bei der Gestapo eine Genehmigung für die Umsiedlung des HERRN nach Kipsdorf zu erwirken und außerdem die Überführung der Möbel von Innsbruck nach Kipsdorf zu erreichen. Beides gelang; von meiner persönlichen Haftung für den HERRN wurde ich jedoch nicht entbunden.

Mehrere Male bin ich wegen der Renovierung des Hauses mit den Herrschaften in Kipsdorf gewesen; kurz nach dem Pfingstfest 1939 sind sie dann gänzlich nach dort übergesiedelt. Der HERR hatte für mich ein kleines Zimmer einrichten lassen, das mir nach Belieben zur Verfügung stehen sollte. Das habe ich zweimal in Anspruch genommen. Als aber dann immer mehr Besucher nach Kipsdorf strömten, habe ich mich dort nur wenig noch sehen lassen. 

Das letztemal, an dem ich den HERRN noch wohlauf antraf- es mag Anfang August 1940 gewesen sein - habe ich Ihn gefragt, warum der HERR nun wieder so viele Besucher empfange. Bei Seiner Ankunft in Schlauroth habe mir der HERR doch geradezu anbefohlen, keinen Menschen mehr an Ihn heranzulassen. Der HERR antwortete mir wörtlich: „Ja; das ist nun alles ganz anders geworden!" Diese Worte sprach der HERR in einer tiefen Traurigkeit aus, die nicht zu überhören war; sie machte nicht nur mich stutzig, sondern auch meinen Freund Karl Linckelmann, der bei diesem Gespräch in Kipsdorf zugegen war. Wir waren beide betroffen. Das war auch kurz nach Seiner letzten Vernehmung am 26.6.1940 durch die Gestapo in Dippoldiswalde. Ich kannte den Grund der Vernehmung, ich kannte aber auch die Urheber und weiß, wes Geistes Kinder sie waren. Dieses schwebende Verfahren, die Bosheit der Menschen, die Zunahme der Besucherzahl in Kipsdorf unter dem ständigen Druck des Überwachtwerdens durch die Gestapo und nicht zuletzt die bittere Enttäuschung darüber, daß nur sehr wenige Menschen Sein Wort so aufnahmen, wie der HERR das erwartet hatte - das scheinen mir die wesentlichen Ursachen für Seinen für uns viel zu frühen indischen Tod gewesen zu sein.

Am 6. Dezember 1941 habe ich den HERRN dann auf Seinem Sterbelager noch ein letztesmal kurz gesprochen. Der HERR war bei vollem Bewußtsein. Ich hatte Fräulein Irmingard gebeten, mich dem HERRN zu melden und zu fragen, ob ich zu Ihm kommen dürfe; Er antwortete, wie ich in der offenen Türe stehend hören konnte, mit sehr schwacher, aber klarer Stimme: „Meine Freunde können immer zu mir kommen!" Daraufhin trat ich an Seine linke Seite und begrüßte Ihn. Der HERR sah mich voll an, reichte mir Seine Hand und sagte kaum hörbar: „Es ist gut, daß Sie da sind!" Ich verharrte noch kurz unter Seinem gütigen Blick und zog mich dann zurück. Am Nachmittag hat Er Seine irdische Hülle verlassen.

Am folgenden Tage habe ich auf Veranlassung von Frau Maria in Dresden die Überführung des Leichnams des HERRN nach Bischofswerda bestellt und dortselbst die Grabstelle auf dem Friedhof ausgewählt. Da der HERR aus der evangelischen Kirche nicht ausgetreten war, besprach ich im Auftrage von Frau Maria mit dem amtierenden Geistlichen auch die Beerdigung. Dem Pfarrer sagte ich ohne Umschweife, wer der HERR für uns gewesen ist. Das wurde von ihm ohne Widerspruch entgegengenommen. Wir einigten uns für die Grabrede auf die Worte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Leider ist nach meinem Besuch der Pfarrer ohne mein Wissen von dritter Seite so schwer verärgert worden, daß er von der Gedenkrede Abstand nahm und nur noch die unerläßlichen kirchlichen Handlungen in der Kapelle und am Grabe vornahm. Das war sehr bedauerlich und unerfreulich. Beim Hinaustragen des Sarges aus der Kapelle zum Grabe fehlte ein Träger. Das war für mich ein letzter Ruf des HERRN; als einziger Seiner Jünger durfte ich helfen, den HERRN zu Seiner Ruhestätte zu tragen. Über die letzten Erdenstunden des HERRN habe ich eine besondere Niederschrift verfaßt. Sie liegt bei der Chronik der Gralsbewegung auf dem Vomperberg.

Nach dem irdischen Tode des HERRN ist von Seinen Erben eine Erbauseinandersetzung herbeigeführt worden, deren Einzelheiten mir bekannt sind. Frau Maria waren dabei die Liegenschaften auf dem Vomperberg und die Urheber- und Verlagsrechte an Seinen Büchern zugefallen. Frau Maria und Fräulein Irmingard haben kurz nach dem Tode des HERRN Kipsdorf verlassen. Sie sind zunächst nach Westerbuchberg in Oberbayern übergesiedelt und von dort auf den Vomperberg zurückgekehrt. Die Gebäude und der Grundbesitz auf dem Vomperberg waren nach Kriegsende vom Staate Österreich auf Veranlas­sung der französischen Besatzungsbehörde den Erben des HERRN zurückgegeben worden. Im Jahre 1949 sind die Gebeine des HERRN von Bischofswerda nach dem Vomperberg in eine dafür errichtete Pyramide überführt worden.

Das Rittergut Schlauroth, den ersten Zufluchtsort des HERRN nach Seiner Haftentlassung, habe ich 1945 nach dem Russeneinmarsch verloren. Es ist mir seiner Größe wegen von dem kommunistischen Zonenregime entschädigungslos enteignet worden. Auch der zweite Zufluchtsort des HERRN, das Giesecke'sche Villengrundstück in Kipsdorf, ist Herrn Giesecke samt seinen Fabriken, genau wie mir, entschädigungslos enteignet worden. Mit Herrn Giesecke konnte ich damals wegen seiner eigenen Bedrängnis keine Verbindung finden; später erfuhr ich, daß er und seine Frau ein bitteres Ende gefunden haben.

Nach meiner Enteignung und ohne Existenz meldete ich mich im Jahre 1946 bei Frau Maria auf dem Vomperberg und bot meine Hilfe an für den Neuaufbau der Siedlung und vor allem der Landwirtschaft. Obwohl keine Fachkraft auf dem Berge war, wurde ich abgewiesen.

Während der folgenden schweren Jahre nach der Vertreibung aus meiner Heimat war es mir aus pekuniären Gründen nicht möglich, Reisen auf den Vomperberg zu machen. Im Jahre 1961 war ich zum ersten Mal wieder dort. In die Tage meines Aufenthaltes auf dem Berge fielen die unerfreulichen Begebenheiten mit Fräulein lrmingards Adoptivtochter Marga, jetzt verehelichte Wurmann, die sichtbare Schatten auf die Sache des HERRN warfen.

Frau Maria lebte nicht mehr, Herr Alexander war als Universalerbe von ihr eingesetzt. Der gesamte sogenannte „Gralsbesitz" (Tempel, Verwaltung,

Liegenschaften etc.), der zum großen Teil aus Spenden und Darlehen erbaut und

erworben worden ist, befand sich damals wie auch heute noch in rein privatem

Besitz der Familie Bernhardt; in jener Zeit war der Gralsbesitz grundbuchamtlich

auf Herrn Alexander Bernhardt

eingetragen. Herr Alexander war damals schon schwer krank; es war

unverkennbar, daß seine Jahre gezählt waren. In Pressekampagnen wurden er

und die gesamte Gralsbewegung damals wiederholt stark angegriffen. Eine

wesentliche Ursache

für diese Anfeindungen war die nach außen wirkende Unklarheit der rechtlichen

und finanziellen Verhältnisse der Gralsbewegung; sie erregte (und erregt auch

noch heute) Zweifel und Mißverständnisse, und hindert die Ausbreitung des

Wortes des

HERRN.

Mit einigen anderen Kreuzträgern, die dem HERRN nahegestanden hatten und die gleich mir von Sorge erfüllt waren, habe ich daher Vorschläge für eine Neuordnung der Organisation der Gralsbewegung ausgearbeitet. Sie waren in einer Denkschrift zusammengefaßt, die ich 1962 anläßlich der Lilienfeier Herrn Alexander, Fräulein Irmingard und dem gesamten Jüngerkreis vorlegte. Die Denkschrift sah vor, das Grals-Vermögen von dem Privat-Vermögen der Familie Bernhardt zu trennen. Es sollte aus dem Privatbesitz in den Besitz einer zu gründenden, straff organisierten Körperschaft übergeführt werden. Die geistige Führung sollte selbstverständlich bei Herrn Alexander und Fräulein Irmingard verbleiben. Damit sie für die geistige Führung wirklich frei würden, sollten sie durch Zusicherung bestimmter fester Einkünfte von jeglichen wirtschaftlichen Sorgen entlastet werden. Auch sollte selbstverständlich das seinerzeit von dem HERRN erworbene Haus „Gralshöhe" in ihrem Privatbesitz verbleiben.

Über diese Denkschrift wurde auf dem Jüngertreffen im Oktober des gleichen Jahres verhandelt. Die darin gemachten Vorschläge wurden von den Jüngern aus Mangel an Zivilcourage, vor allem aber aus Mangel an Verantwortungsbereitschaft, und allen Mitgliedern der Familie Bernhardt aus materiellen Gründen abgelehnt. Ich stand allein, wie 1938, als es schon mal galt, einen außergewöhnlichen Schritt für den HERRN tun. Ich mußte eine Flut von Schmähworten über mich ergehen lassen, bis hin zum „Antichrist".

Hierzu ist noch zu sagen, daß der HERR in Seiner Weitsicht im Jahre 1932 in einer Aufzeichnung schon niedergelegt hatte, daß der Gralsbesitz später in die Hand einer Körperschaft übergehen soll (siehe auch: Swarovski in „Warum so viel Aufhebens ...", 1955, Seite 62/63). Die Durchführung dieses Gedankens ist sicher deshalb zurückgestellt worden, weil der HERR damals noch an der Botschaft arbeitete und sich daneben nicht praktischen und juristischen Fragen widmen konnte. Das, was Er auf dem Vomperberg erstehen lassen wollte, ist in Seinem Vortrage „Mein Ziel" klar gesagt. Über die juristische Form sich schlüssig zu werden, lag damals noch kein dringender Anlaß vor, denn Er weilte ja noch auf Erden; das ist aber heute, da Er von uns gegangen ist, grundsätzlich anders.

In folgenden Jahren bin ich manches Mal auf dem Berge gewesen, aber an den Feiern und Andachten nehme ich nicht mehr teil. Damit will ich dokumentieren, daß ich den seit Jahren eingeschlagenen inneren und äußeren Weg mit meiner Person und meinem Jüngertum nicht mehr decken kann. Es ist nicht der Weg, den ich durch den HERRN erkennen und erleben durfte. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß der HERR, je länger um so mehr, in den Hintergrund gedrängt wird. Nach den klaren Richtlinien, wie sie in „Der Berg des Heiles" und „Mein Ziel" gegeben sind, wird heute nicht mehr gehandelt.

Herr Alexander ist tot. Er hat Fräulein Irmingard als Universalerbin eingesetzt. Hier stellt sich erneut die Frage: Was wird aus dem Gralsvermögen, wenn Fräulein Irmingard von dieser Erde abgerufen wird? - Wird dann Marga Wurmann, die Adoptivtochter von Fräulein Irmingard, die, wie für jedermann sichtbar, der Gralsbewegung entfremdet ist, die Universalerbin des Gralsvermögens sein?

Weit wichtiger aber als die Regelung der materiellen Belange ist die Frage: Was geschieht dann mit der Botschaft, und was wird aus dem Wort des HERRN?

Der HERR ist, ohne ein Testament hinterlassen zu haben, von dieser Erde gegangen. Er hat also über Seinen irdischen Besitz, wie auch über seine weiteren irdischen Pläne für eine Weiterführung der Gralsbewegung keine letztwillige Verfügung getroffen. Für mich besteht hier ein Zusammenhang mit den Worten, die der HERR so niedergeschlagen in dem letzten Jahre vor Seinem Tode an mich richtete: „Ja, das ist nun alles ganz anders geworden!"

Die Botschaft des HERRN ist sein Testament! Das ist so klar und einfach, daß es jeder von uns verstehen sollte, der guten Willens ist. Sie ist das A und O unseres Strebens nach geistiger Erkenntnis!

Die Sache des HERRN wird nicht auf dem Berge entschieden. Sie liegt in den Händen jedes einzelnen Kreuzträgers, der mit seiner Versiegelung die volle Verantwortung für die Sache übernommen hat. Er hat bewußt und selbständig zu prüfen und zu handeln. Nur in dem Maße, wie jeder einzelne die Botschaft in sich und um sich lebendig macht, wird sie rein erhalten und verbreitet. Unaufhörlich müssen wir wachsam sein, damit Sein Wort erhalten bleibe für die, die nach uns kommen. Niemand von uns sollte der unter Gralsbekennern verbreiteten Auffassung anheimfallen, er brauche nichts beizutragen zum Fortbestand des Wortes, das Licht werde alles von sich aus führen! 1938 hat das Dunkel unverhofft zugeschlagen und alles geistige Leben auf dem Berge ausgelöscht. Seien wir auf der Hut, daß dieser Vorgang sich nicht wiederhole!

Ich komme zum Abschuß meiner Erinnerungen und Gedanken. Vom Tage meiner Versiegelung an, als ich dem HERRN zum ersten Male gegenübertrat, ist mein Leben durch tiefere Impulse bewegt worden als bis dahin. Alle Probleme traten unmittelbarer an mich heran und forderten eine baldige Entscheidung, die, wenn sie aus der Empfindung getroffen wurde, stets auch die richtige war. Diese beinahe sichtbare Führung erstreckte sich bis in meine tägliche Arbeit, ja, bis in die Bestellung meiner Felder. Daß dieses Empfinden, geistig geführt zu sein, sich wesentlich verstärkte, nachdem ich dazu auserwählt war, den HERRN in meinem Hause aufzunehmen, ist wohl nicht mehr als selbstverständlich. Und so darf ich in aller Demut sagen, daß ich mein Leben als gesegnet empfinde. Ich bin aber auch davon überzeugt, daß allen Kreuzträgern mit einem reinen, mutigen, einsatzbereiten und gläubigen - aber nicht blindgläubigen - Herzen der gleiche Segen zuteil werden wird, den ich empfinde, denn er kommt ja aus derselben Hand.

Rötz/Opf., im März 1971

gez: Hellmuth Müller

 

Der letzte Erdentag des HERRN

Im nachfolgenden schreibe ich aus der Erinnerung nieder, was ich in Kipsdorf im Erzgebirge, im Hause des HERRN, am Sonnabend, den 6., und Sonntag, den 7. Dezember 1941, miterleben durfte:

Am Spätnachmittag des 5. Dezember 1941, es war an einem Freitag, erreichte mich in Schlauroth ein Telefonanruf von Fräulein Irmingard aus Kipsdorf. Fräulein Irmingard teilte mir mit, daß es dem HERRN gesundheitlich nicht gut gehe; sie bäte daher, daß Herr Dr. Hütten an das Krankenlager des HERRN kommen möge. Daß sie bei mir anrufe, hätte seinen Grund darin, daß ihr die Telefonnummer von Dr. Hütter fehle. Ich antwortete, daß ich Dr. Hütter sofort benachrichtigen würde, und fragte, ob ich selber auch mitkommen dürfe. Darauf entgegnete Fräulein lrmingard, daß meinem Mitkommen nichts entgegenstünde. Fräulein Irmingard sagte mir noch, daß sie im Hotel HaIali in Kipsdorf, obwohl dort Gaststättenruhetag sei, ein Zimmer für uns beide bereitstellen lasse. (Hier möchte ich einfügen, daß ich bereits mit dem Vater von Hütter, der ebenfalls Arzt in Görlitz war, befreundet gewesen bin, so daß sich diese Freundschaft sozusagen vom Vater auf den Sohn übertragen hat.)

Nachdem ich festgestellt hatte, daß wir am Freitag Kipsdorf nicht mehr erreichen konnten (wir mußten mit der Bahn fahren, denn es war Krieg und weder Hütter noch ich hatten mehr einen Kraftwagen), setzte ich mich telefonisch mit Dr. Hütter in Verbindung, der selbstverständlich sofort bereit war, den HERRN aufzusuchen. Der nächste Zug, den wir nehmen konnten, fuhr am Sonnabend, den 6. Dezember, gegen 6 Uhr früh von Görlitz ab, und wir trafen gegen 9 Uhr vormittags in Kipsdorf ein. Wir stellten unsere Reisetaschen im Hotel ab, Dr. Hütter nahm lediglich seine Ärztetasche mit, und so begaben wir uns in das Haus des HERRN.

Dort wurden wir von den Damen empfangen. Dr. Hütter begab sich unmittelbar zur Untersuchung zum HERRN, während ich mit den Damen im Wohn-Speisezimmer blieb. Dieses Zimmer lag im Erdgeschoß des Hauses, das Schlafzimmer des HERRN hingegen im Obergeschoß.

Nachdem die Untersuchung beendet war, gingen die Damen zum HERRN, und ich schloß mich ihnen an. Fräulein Irmingard hatte ich gebeten, den HERRN zu fragen, ob auch ich zu Ihm kommen dürfe. In der offenen Tür stehend hörte ich, wie Fräulein Irmingard mit folgenden Worten den HERRN fragte:

„Vater, Herr Müller-Schlauroth ist auch hier, er läßt Dich fragen, ob er zu Dir kommen darf." Darauf antwortete der HERR: „Meine Freunde können immer zu mir kommen." Ich begab mich an das Lager des HERRN. Das Bett, in dem Er lag, stand so, daß man von drei Seiten herantreten konnte. Der HERR lag auf der linken Körperseite, ich ging um das Bett herum, um Ihn zu begrüßen. Der HERR reichte mir die Hand, schaute mich fest an und sprach kaum hörbar: „Es ist gut, daß Sie da sind." Ich verblieb noch einige Sekunden unter Seinem gütigen Blick und zog mich dann leise von Seinem Lager zurück. Bei dieser Begrüßung war der HERR noch bei vollem Bewußtsein und ruhig. Er war jedoch sehr abgemagert, Seine Haut welk und gelb, Seine Augen aber leuchtend.

Anschließend wurden Dr. Hütten und ich von Frau Maria zum Mittagessen gebeten, das im Wohn-Speisezimmer eingenommen wurde. Fräulein Irmingard blieb am Bett des HERRN. Nach dem Essen begab sich auch Frau Maria wieder nach oben an das Lager des HERRN. Dr. Hütter und ich blieben allein im Zimmer zurück. Hier äußerte Hütter: „Wenn es sich nicht um den HERRN handelte, wäre ich der festen Überzeugung, am Lagereines Sterbenden zu sein." Bald darauf wurde Dr. Hütter von Fräulein Irmingard dringend an das Krankenlager gerufen.

Das Befinden des HERRN hatte sich verschlechtert. Wir eilten beide die Treppe hinauf, Hütter begab sich zum HERRN, um den Puls zu prüfen, ich blieb an der Tür innerhalb des Zimmers stehen. Der HERR war einer Ohnmacht nahe. Dr. Hütter sagte den Damen, daß der Puls sehr matt geworden sei, er gab dem HERRN eine herzstärkende Einspritzung. Um dieses Mittel noch von außen her zu unterstützen, kamen die Damen mit Dr. Hütten darin überein, daß Frau Maria vermittels der ihr innewohnenden heilenden Fähigkeiten, am Fußende des Bettes stehend, durch Aufheben beider Arme dem HERRN Kraft spenden wollte. Von nun an hielt Dr. Hütter den Puls des HERRN unter ständiger Kontrolle, und immer dann, wenn der Puls schwächer wurde oder gar aussetzte, gab er durch Kopfnicken Frau Maria das Zeichen, mit ihrer Behandlung wieder einzusetzen. Ich hatte den Eindruck, daß der HERR jetzt ohne Bewußtsein wäre. Er lag verhältnismäßig ruhig, aber jedesmal, wenn Frau Maria ihre Arme erhob, richtete sich der HERR etwas auf und schlug sehr erregt, oft mit beiden Armen, aber meist mit dem rechten Arm so, als ob Er ein Schwert zur Abwehr führe, um sich. Diesen Vorgang habe ich drei- oder viermal miterlebt; dann habe ich mich zurückgezogen, um mich nach unten in das Wohnzimmer zu begeben. Dort habe ich gebetet.

Gegen 15 Uhr kam Fräulein Irmingard und sagte mir, daß um 16 Uhr das Ehepaar Giesecke in Kipsdorf mit dem Zuge ankäme. (Herr Giesecke war Besitzer des Hauses, in dem die Herrschaften wohnten; er hatte es ihnen zur Verfügung gestellt, nachdem dem HERRN von der Gestapo genehmigt worden war, Schlauroth zu verlassen, um wieder einen eigenen Hausstand zu begründen.) Frau Maria bäte mich, Gieseckes am

Bahnhof abzuholen, um Herrn Giesecke zu sagen, daß er seine Frau nicht mit in das Haus bringen, sondern nur allein kommen möge. Mir persönlich lasse Frau Maria sagen, daß sie angesichts der ernsten Lage Frau Giesecke nicht ertragen könne.

Das war für mich ein unangenehmer Auftrag, war ich doch mit Gieseckes, wenn auch nicht geradezu befreundet, so doch sehr gut bekannt. Da der Auftrag aber von Frau Maria kam, konnte ich mich schlechterdings nicht weigern, ihn auszufüh­ren. Ich erwartete Gieseckes am Bahnhof. Auf dem Wege zum Schweizerhof (Schweizerhof hieß das Haus, in dem der Herr wohnte und das Giesecke gehörte) habe ich Herrn Giesecke so schonend wie möglich die Nachricht von Frau Maria überbracht. Sie traf Herrn Giesecke schwer; ich merkte ihm an, daß er sehr betroffen war. Aber Herr Giesecke sowohl als auch seine Frau entsprachen Frau Marias Wunsch. Frau Giesecke begab sich in den weiter oberhalb liegenden Gutshof, Herr Giesecke in das im Schweizerhof für Gieseckes zurückbehaltene Zimmer Das hat sich gegen 16.30 Uhr zugetragen.

Anschließend ist Herrn Giesecke von den Damen der Eintritt das Zimmer des HERRN gewährt worden.

Etwa zehn Minuten später kam Dr. Hütter, der bis dahin ununterbrochen den Puls des HERRN beobachtet und abwechselnd mit Frau Maria - er durch herzstärkende Einspritzungen, Frau Maria durch Erheben der Arme - versucht hatte, dem HERRN zu helfen und Ihn am Leben zu erhalten, sichtlich verstört zu mir und erklärte, sich eines für ihn furchtbaren Auftrages von Frau Maria entledigen zu müssen. Der Auftrag lautete: „Herr Giesecke hat im Zimmer des HERRN durch ein Pendel festgestellt, daß du (gemeint war ich) sofort das Haus verlassen müßtest, denn du stündest der Genesung des HERRN im Wege!" Darauf bin ich mit Hütter aus dem Zimmer in die Diele getreten, und während ich mich anschickte, meinen Mantel anzuziehen, rief Fräulein Irmingard von oben:

„Herr Dr. Hütter, kommen Sie, schnell, schnell!" Hütter lief die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Gerade in dem Augenblick, als ich die Haustür öffnete, um das Haus weisungsgemäß zu verlassen, rief Dr. Hütter von oben: „Hellmuth, du brauchst nicht mehr zu gehen. Der HERR ist, während ich unten war, gestorben." Das war am Sonnabend, den 6. Dezember 1941, gegen 17 Uhr.

Nachdem Dr. Hütter die notwendigen Handlungen am Leichnam des HERRN vorgenommen hatte, kamen wir mit den Damen im Wohn-Speisezimmer zusammen, wo verabredet wurde, am nächsten Tage, am Sonntag, das Weitere zu besprechen. Die Nacht von Sonnabend zu Sonntag verbrachten Hütter und ich im Hotel Halali in einem gemeinsamen Zimmer. Da ereignete sich noch ein Vorgang, der vielleicht der Erwähnung wert ist. Hütter war offensichtlich stark erschöpft und schlief bald ein, während ich noch lange wach lag. Plötzlich rasselte in er Hotelhalle das Telefon. Da außer uns niemand im Hause war (wir hatten deshalb bereits am Morgen den Hausschlüssel mitbekommen), läutete es unausgesetzt. Da weckte ich Hütter. Wir dachten beide, der Anruf könne von Frau Maria kommen. Sollte der HERR in Seine irdische Hülle zurückgekehrt ein? Ich eilte an den Apparat. Der Anrufer war aber ein Gast, der ein Zimmer verlangte.

Am Sonntag morgen frühstückten wir im Hotel. Dr. Hütter begab sich dann zum Bürgermeister, um die notwendigen Formalitäten zu erledigen. Im Sterbehaus trafen wir wieder zusammen. Dr. Hütter reinigte zusammen mit der herbeigerufe­nen Leichenwäscherin den Leichnam des HERRN. Die Damen brachten das Gewand für den HERRN herbei, sie kleideten Ihn zusammen mit Dr. Hütten in eine gelbe Robe und betteten Ihn auf ein Lager, das mit weißem Linnen bespannt war. Nachdem der HERR fertig aufgebahrt war und Leuchter neben Ihm brannten, trat auch ich an Ihn heran und nahm von Ihm Abschied.

Am Nachmittag baten mich die Damen, in Dresden bei dem staatlichen Begräbnisinstitut einen Sarg auszuwählen, die Überführung des Leichnams des HERRN nach Bischofswerda zu veranlassen, in Bischofswerda eine Grabstelle zu erwerben, mit dem zuständigen Pfarrer das Begräbnis zu besprechen und einen Termin zu vereinbaren. Am Montag, den 8. Dezember, verließ ich Kipsdorf mit dem Morgenzuge, um die Aufträge der Damen auszuführen. Nachdem das geschehen war, verständigte ich die Damen in Kipsdorf telefonisch über den Termin der Beisetzung des HERRN und den Ausgang meinen sonstigen Obliegenheiten. Dann reiste ich nach Haus auf meinen Schlaurother Gutshof zurück.

Diese Niederschrift erfolgte nach gewissenhaftester Prüfung meiner Erinnerung, und ich bin fest davon überzeugt, daß sie mit dem tatsächlich Erlebten übereinstimmt.

Rötz in der Oberpfalz, den 31. März 1969.

gez. Hellmuth Müller Jünger des HERRN

 

PS: Herr Giesecke trat - nach vorheriger Vermittlung durch meinen Freund Karl Linckelmann - während der Beisetzung des HERRN in Bischofswerda an mich heran und bat mich am offenen Grabe des HERRN wegen der mir in Kipsdorf angetanen Kränkung um Verzeihung. Diese habe ich ihm gern gewährt.

 

HELLMUTH MÜLLER-SCHLAUROTH

Aus seinem Leben

Ein jüngerer Freund meines verstorbenen Mannes machte mir den Vorschlag, das Leben von Hellmuth MülIer-Schlauroth in einer Skizze festzuhalten. Dieser Freund ist ein Bekenner der Gralsbotschaft und hat in den letzten Jahren die Sorgen und Kämpfe meines Mannes um die Reinerhaltung der Gralsbewegung und der Gralsbotschaft geteilt.

In der Erkenntnis, daß zu Beginn von Abd-ru-shins Wirken eine stärkere Verinnerlichung, ein tieferes Gottsuchen unter den Menschen war als in der heutigen Zeit, und in der Überzeugung, in Hellmuth Müller-Schlauroth einem letzten Vertreter einer entscheidenden Epoche begegnet zu sein, schrieb er u.a.:

„In der Hoffnung, daß es in einer späteren Zeit noch einmal Menschen geben wird, die wieder Gralssucher genannt werden können, erachte ich die Aufbewahrung von Ihres Mannes Lebenszeugnis als Notwendigkeit."

Über Abd-ru-shin und die mit Ihm zusammenhängenden Erlebisse, die sein Leben am stärksten geprägt haben, hat Hellmuth Müller-Schlauroth in seinen Niederschriften

„Meine Begegnung mit dem HERRN"

und 

„Der letzte Erdentag des HERRN" selber berichtet.

Ich kann und will nichts weiter tun, als aus den Zeiten, die vor, zwischen und nach den in seinen Niederschriften dargestellten liegen, zu erzählen. Ich werde einige seiner Erlebnisse aus den Kinderjahren, aus den beiden Weltkriegen, aus seinem Beruf, von seiner Vertreibung aus Schlesien, den ihr folgenden schweren Jahren und den letzten guten Jahren festhalten. Ich gebe sie so wieder, wie ich sie von ihm gehört habe, und ich berichte nur das, was ich mit Sicherheit weiß. Vielleicht gelingt es mir, damit die Züge seine Wesens und die Züge jener Jahre deutlich zu machen, von denen der Initiator dieses Berichtes spricht.

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Hellmuth Albert Müller wurde am 12. April 1897 in Cotta bei Dresden geboren. Cotta gehörte damals noch nicht zu Dresden; es war ein ländlicher, weit außerhalb der Stadt liegender Ort. Dort betrieb sein Vater am Hamburger Platz einen Großhandel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

Die Eltern waren, wie es damaliger bürgerlicher Gesinnung und Tradition entsprach, dem sächsischen Königshause treu ergeben. Schon der Vater trug den Namen des Königs Albert; auch der Sohn erhielt diesen Vornamen. Als Rufnamen bestimmten die Eltern „Hellmuth", denn sie wünschten sich, daß der Sohn einen hellen Muth (der dazumal noch mit „th" geschrieben wurde) haben möge. Später mahnte der Vater, sobald der kleine Junge sich vor etwas fürchtete, ihn mit den Worten: „Hellmuth, laß' dich nicht feige finden!"

Das Getreide, die Kartoffeln, Rüben und Äpfel rollten auf Wagen, die mit zwei oder vier schweren Pferden bespannt waren, in den Hof. Pferdegetrappel und der Umgang mit Natürlichem, Gewachsenem, Duftendem waren die ersten Eindrücke, die der kleine Hellmuth empfing; sie sollten für sein Leben bestimmend bleiben.

Eine der Prinzessinnen des sächsischen Hofes ließ sich manchmal an schönen Sommertagen in einer Pferdekutsche nach Cotta fahren, um dort mit ihrer Hofdame an dem damals noch stillen Elbufer spazierenzugehen. Wenn der Wagen der Prinzessin, aus der Stadt kommend, in den Hof einbog, trat Vater Müller vor das Haus, öffnete den Wagenschlag und kredenzte der Prinzessin auf einem silbernen Tablett einen Likör. Wenn er nicht anwesend war, tat es von seinem 6. Jahr an mit einer tiefen Verbeugung der kleine Hellmuth, wobei der Kutscher für ihn die Wagentür öffnen mußte, da er den Griff noch nicht erreichen konnte.

Nachdem er zunächst die Bürgerschule in Cotta besucht hatte, kam Hellmuth auf die Obenrealschule in Dresden. Besonders markante Schulerlebnisse habe ich von ihm nicht gehört, wohl aber eine Schilderung, die ich wiedergeben will, nicht weil sie für ihn bezeichnend wäre, sondern weil sie den Abstand zwischen unserer Zeit des Terrorismus und der Zeit vor dem Weltkrieg aufzeigt. Der damals regierende König Friedrich August III. pflegte öfters in den Mittagsstunden zu Fuß und ohne eine Begleitung ein Zigarrengeschäft in der Prager Straße -aufzusuchen und seine Einkäufe dort vorzunehmen. Sobald die aus der Schule strömenden Jungen ihn erkannten, hefteten sie sich ihm in Scharen und mit lauter Begeisterung an die Fersen. Nach einiger Zeit drehte der König sich um und sagte: „Nee, nee, Jungens, nu laßt mich ooch alleene weiterjeh'n!" Worauf die Meute einige Schritte zurückblieb und ihm nur noch leise murmelnd in respektvoller Entfernung bis zum Schloß folgte.

Als Hellmuth 10 Jahre alt war, beauftragte sein Vater ihn damit, kurz vor Schalterschluß die täglichen Geldeinnahmen mit dem Fahrrad zur Bank zu bringen und dort einzuzahlen. Es handelte sich um Gold- und Silberstücke, die er in einer schweren ledernen Tasche mit einem Riemen um den Leib geschnallt bekam. Das so früh in ihm geweckte Verantwortungsbewußtsein für ihm anvertrautes Gut hat ihn nie verlassen.

Eine Unentschiedenheit in der Berufswahl hat es für ihn nicht geben. Seine Liebe zu Tier und Pflanze, sein Wunsch, dem allen das Beste abzugewinnen, waren so eindeutig, daß er sogleich nach der Schulzeit die Höhere Landwirtschaftsschule in Döbeln in Sachsen absolvierte. Daran schloß sich eine praktische Lehre und eine Assistentenzeit auf zwei Großgütern.

Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, meldete sich, wie Tausende ihr Vaterland liebenden junger Menschen, auch der siebzehnjährige Hellmuth Müller freiwillig zum Militär. Er kam an die Westfront. Noch in demselben Jahr wurde er mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und einige Monate später, nachdem der junge Kriegsfreiwillige sich in dem Sturm auf die Festung Verdun durch besonderen Mut hervorgetan hatte und schwer verwundet worden war, mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet. In einem Lazarett im Harz heilte seine Verwundung aus; danach wurde er einer Truppe an der Ostfront zugeteilt. Im Frühjahr 1917 geriet er, zwanzigjährig, bei Charkow in russische Gefangenschaft. Es waren die letzten Monate des zaristischen Rußland. Die deutschen Gefangenen wurden un­vergleichlich menschlicher und legerer behandelt als etwa später im 2. Weltkrieg. Zwar arbeitete Hellmuth Müller tagsüber in einer Fabrik unter Bewachung, doch abends und an den Wochenenden konnte er sich frei unten der Bevölkerung bewegen.

In seiner Freizeit striegelte und longierte er Pferde auf der Trabrennbahn. Und ein anderes Bild stieg bis in sein hohes Alter immer wieder aus der Erinnerung auf: die Pracht, mit der die griechisch-orthodoxe Kirche in der Osternacht die Auferstehungsfeier beging.

Nach der Oktoberrevolution 1917 verschlechterte sich die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen sofort. Als bekannt wurde, daß sie in entlegenere Teile Rußlands gebracht werden sollten, ergriff Hellmuth Müller die erste sich bietende Gelegenheit, um sich nach Westen abzusetzen. Es wurde eine Flucht über mehr als 1000 km, die er unter ständiger Gefahr, wieder eingefangen und dann erschossen zu werden, unter Hunger und Kälte, größtenteils zu Fuß zurücklegte. Sie wäre ihm trotz seines Mutes und seiner Entschlossenheit nicht gelungen, wenn er nicht unterwegs immer wieder Hilfe gefunden hätte. So stopfte ihm eine Bauersfrau eines Nachts die Taschen voll Brot und Zucker. In Tschernowitz hielt ein jüdischer Trödler ihn ein paar Nächte versteckt, bis er sich wieder etwas erholt hatte.

Im Frühjahr 1918 war er wieder in der Heimat. Der Krieg war noch nicht zu Ende, aber ein geflüchteter Kriegsgefangener wurde nicht wieder an die Front geschickt. Im November 1918 wurde der Waffenstillstand geschlossen, der Krieg war verlo­ren, die Monarchie stürzte, Deutschland wurden durch den Vertrag von Versailles schwere Lasten auferlegt. Dieser unglückliche Ausgang bewegte den jungen Patrioten sehr.

Mit Macht drängte es ihn nun in den erwählten Beruf des Landwirts. Er übernahm, zunächst als Verwalten, später als Pächter auf Lebenszeit, die Bewirtschaftung des devastierten und überschuldeten Rittergutes Schlauroth im Kreis Görlitz. Es handelte sich um einen Besitz von 115 ha, der - 5 km von Görlitz entfernt - zu Füßen der „Landeskrone" sich erstreckte. Der verstorbene Besitzer Schoppe hatte Schulden in Höhe von 510.000 Reichsmark, einer beim damaligen Geldwert gewaltigen Summe, hinterlassen. Die Gebäude waren verkommen, das Inventar verbraucht, die Felder verunkrautet. Wenn auch Vater Müller ihm in der ersten Zeit mit relativ großen Beträgen finanziell beistand, gelang es dem jungen Pächter doch nur mit Aufbietung aller Kräfte, den Hof vor den drohenden Wechselprotesten und der Versteigerung zu bewahren. 1919 heiratete er die Witwe des verstobenen Besitzers, Marie-Luise Schoppe. Um das Gut aus seiner schwierigen Lage herauszuführen, entschloß ersich, das Nutzvieh abzuschaffen und den Betrieb auf hochintensiven Samen- und Gemüsebau umzustellen. Das war ein sehr ungewöhnlicher Schritt, zu dem wiederum viel Mut gehörte und der ihm zunächst nur Spott und böse Prophezeiungen einbrachte.

Im Laufe der Jahre gelang es ihm jedoch, die auf dem Hof lastenden Schulden zurückzuzahlen und das Gut zu einem Musterbetrieb zu entwickeln, der die Aufmerksamkeit und die Anerkennung zahlreicher Fachkenner und der einschlägigen Behörden fand. Die Landwirtschaftskammer Niederschlesien kannte ihn als Lehrherrn an, die Samen-Versuchsanstalt Pommritz in Sachsen veranstaltete Führungen auf seinen Feldern, der Kreis Görlitz ernannte ihn zum stellvertretenden Landrat.

Allmählich wurde er weit über die Grenzen seines Heimatkreises hinaus bekannt. Der Name „Müller-Schlauroth" bürgerte sich ein. Man betraute seinen Träger mit zahlreichen Ehrenämtern. Mit knapp 35 Jahren wurde erzum Präsidenten des Verbandes der Landeskulturgenossenschaften (später: Reichsverband der Wasser- und Bodenkulturverbände) gewählt. Auch wählte ihn die Landesgruppe Schlesien dieses Verbandes zu ihrem Leiter. Der Verband erkannte in ihm eine Persönlichkeit mit neuen Ideen und mit Unternehmungsgeist.

Aber auch für die Bauern seines Dorfes war er da. Über 20 Jahre war er Vorsitzender der Genossenschaftsmolkerei Schlauroth, die täglich ca. 20.000 Liter Milch verarbeitete und die unter seinem Vorsitz zahlreiche maschinelle Verbesserungen einführte.

Auch für seinen eigenen Betrieb beschaffte er die bestentwickelten landwirtschaftlichen Maschinen, die ersten Schlepperund Drillmaschinen. Dessen ungeachtet benötigte ein Betrieb, der seinen Abnehmern völlige Sortenreinheit und Unkrautfreiheit für die gelieferten Sämereien garantierte viele menschliche Arbeitskräfte. Zu den ständig auf dem Hof beschäftigten Arbeitern und Angestellten kamen alljährlich im Frühjahr etwa 20 weibliche und 10 männliche Arbeiter aus Polen und blieben dort bis in den Spätherbst. Es kamen zumeist dieselben Leute wieder. Ihr „Chef" verlangte gute Arbeit von ihnen, Fleiß, Pflichtgefühl, Ordnungssinn. Und er konnte laut und heftig werden, wenn es daran fehlte. Wer aber das Seine tat, wurde gut behandelt und gut bezahlt.

Eine Episode mag das Verhältnis zwischen dem Gutsherrn und seinen Leuten zeigen: Der Betrieb baute große Flächen Lein an. Infolge eines unglücklichen Umstandes hatte in einem Jahr doch einmal Unkraut den Lein so stark überwuchert, daß die Felder umgepflügt werden sollten. Das wäre ein großer Ver­lust gewesen. Während Müller-Schlauroth noch, von Sorgen und Zweifeln geplagt, an den Feldern auf- und niederlief, kam ein deutsch sprechender Pole zu ihm und sagte: „Die Frauen lassen sagen, der Chef soll heimgehen. Sie machen die Felder sauber." Und sie taten es, obwohl es Pfingstsonnabend war und in Strömen regnete. Nach der Ernte wurde der Lein in die Flachsröste geliefert. Der Ablieferer erhielt den Gegenwert teils in Geld, teils in Leinenstoffen. Müller-Schlauroth ließ zwei Ballen Stoff bunt bedrucken und für jede Frau und jedes Mädchen, die ihm im Frühjahr den Lein gerettet hatten, von der Schlaurother Hausschneiderin ein Dirndlkleid nähen.

Seine Polen blieben auch nach Ausbruch des 2. Weltkrieges bei ihm, weil die Ernte noch nicht beendet war. Die Behörden tolerierten das, doch verboten sie den Polen, noch deutsche Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Arzt und Apotheke waren ihnen nicht mehr zugänglich. Nun mußte den „Chef" alle Krankheiten behandeln und versuchen, die nötigen Medikamente zu beschaffen. Als eine Polin niederkam, wurde er in der Nacht geweckt, damit er die Hebamme ersetze. Er tat es mit Erfolg.

Gutsherr und Arbeiter fühlten sich einander verpflichtet. Das Bild des kapitalistischen Ausbeuters, des Nichtstuers, den seine Leute vom Pferde aus mit der Reitpeitsche antreibt, wie es nach Kriegsende von den Bolschewisten gezeichnet wurde, traf auf ihn nicht zu. Wie er sagte, gab es unter allen ihm be­kannten schlesischen Gutsbesitzern keinen, auf den es zugetroffen hätte.

Hellmuth Müller-Schlauroth war ein begeisterter Jäger und scharte einen freundlichen Kreis von Jagdkameraden um sich. seine besondere Freude, sein „Glück am Rande", aber waren seine Pferde und seine Hunde, die ihm durch Zuneigung und Treue das Verständnis vergalten, mit denn er sie behandelte. Auch in hohem Alter erinnerte er sich jedes Namens und jeder Charaktereigenschaft seiner Tiere.

Im Jahre 1934 trat Abd-ru-shin in sein Leben, wenn auch zunächst noch nicht persönlich. Vielmehr bekam er von seinem um 11 Jahre älteren Freund, Herrn Rechtsanwalt Karl Linckelmann, der zu jener Zeit in Berlin lebte, die erste, 1926 erschienene Ausgabe der Gralsbotschaft „Im Lichte der Wahrt" zum Lesen. Eingehende Gespräche zwischen den Freunden folgten. Sie führten dazu, daß Müller-Schlauroth 1935 mit seiner Familie und einer langjährigen Hausangestellten der Gralsbewegung beitrat. Im September 1935 wurde er auf dem Vomperberg vom HERRN versiegelt, 1936 wurde er berufen und 1937 in der Feier des Strahlenden Sternes vom HERRN zum Jünger geweiht.

Zehn Wochen später wurde Österreich dem Deutschen Reich eingegliedert. Abd-ru-shin wurde von der Geheimen Staatspolizeiverhaftet und in das Gefängnis Innsbruck gebracht. Durch zähe und mutige Verhandlungen in Innsbruck und bei der Gestapo in Berlin erreichte Müller-Schlauroth schließlich Abd-ru-shins Entlassung, nachdem er mit Kopf und Vermögen für Ihn Bürgschaft geleistet hatte. Nach der Freilassung stellte er dem HERRN und dessen Familie sein Haus zum Aufenthalt zur Verfügung. Diese Ereignisse hat er in der ersten seiner eingangs genannten Niederschriften eingehend geschildert; ich erwähne sie daher nur kurz, um die zeitliche Folge aufzuzeigen.

Am 6. Dezember 1941 starb Abd-ru-shin in Kipsdorf. Müller-Schlauroth hat die letzten Erdenstunden des HERRN und dessen Beisetzung in Bischofswerda in seiner zweiten Niederschrift aus eigenem Erleben geschildert.

Etwa 1931 war MülIer-Schlauroth der NSDAP beigetreten, weil er in ihr eine vaterländische Partei sah, eine Partei, die das schwer um seine Existenz ringende Bauerntum förderte. Von der „Kristallnacht" 1938 an, die ihn tief empörte, begann er jedoch, sich innerlich von der Partei zu lösen. Im Juli 1943 ist er schließlich unter öffentlichem Protest ausgetreten; im damaligen Stadium des Krieges galt das als „Verrat an der deutschen Sache".

Zur Wehrmacht eingezogen wurde er im 2. Weltkrieg nicht, da der Kreis Görlitz ihn zur Sicherung der Ernährung als landwirtschaftlichen Sachverständigen beanspruchte. Man übergab ihm auch die Verwaltung zweier benachbarter Güter, deren Besitzer im Felde standen.

Durch Rechtsanwalt Linckelmann kam Müller-Schlauroth mit der Forschungsstelle für Nationalwirtschaft in Berlin in Kontakt. Von 1932 bis zum Kriegsende stand er dort als Berater zur Verfügung, sooft landwirtschaftliche Fachfragen zu klären waren.

Vom Januar 1945 bis zum Kriegsende hielt Müller-Schlauroth eine junge Görlitzerin, Fräulein Elisabeth-Charlotte Kuban, die aus politischen Gründen zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, beim Russenvormarsch aber aus der Strafanstalt Jauer hatte fliehen können, in seinem Hause versteckt.

Auch mit anderen Flüchtlingen füllte sich das Haus. Die Verwandten seiner Frau und Freunde der Familie flüchteten vor dem Vormarsch der Russen aus Oberschlesien nach Schlauroth. Freunde, die in Berlin ausgebombt waren, suchten und fanden ebenfalls Zuflucht in Schlauroth, darunter von Ende 1943 bis Frühjahr 1944 die wissenschaftliche Leiterin der eben erwähnten Forschungsstelle für Nationalwirtschaft, Frau Johanna Bödeker, mit ihrer Kusine, und ab Januar 1945 Rechtsanwalt Linckelmann mit seiner Familie.

Von Anfang Februar 1945 an lag Schlauroth im Frontgebiet. Mit dem Einmarsch der Russen war nun zu rechnen. Die meisten Bauern aus dem Dorfe flohen. Mit Rücksicht auf seine Familie und wegen der Flüchtlinge, die das Gut beherbergte, darunter zahlreiche Mädchen und junge Frauen, quälte Müller-Schlauroth die Frage, wie er sich verhalten sollte. Wäre es ausschließlich um ihn gegangen, hätte er die Russen auf seinem Hof erwartet.

Als im April die Front vorübergehend zurückging, fuhr er mit einigen Männern in das geräumte Gebiet, um zu sehen, wie dort mit den Menschen umgegangen worden war. Die Eindrücke waren so furchtbar, daß daraufhin der Entschluß gefaßt wurde, einen Treck zusammenzustellen. Als die ersten feindlichen Kugeln in das Wohnhaus einschlugen, ging der Treck mit 3 Zugmaschinen und 5 Anhängern, auf denen sich 34 Personen mit ihrem Gepäck befanden, auf die große Straße nach Zittau. General Schörner hielt diese Straße noch frei, um den zurückflutenden deutschen Soldaten die Möglichkeit zu geben, die Elbe und damit die Amerikaner zu erreichen.

Die verstopfte Straße und Tieffliegenangriffe zwangen den Treck, in die Tschechoslowakei, das damalige Sudetenland, auszuweichen. Dort waren sie, als der Waffenstillstand eintrat. Nach etwa drei Wochen kehrte die Familie und die Mehrzahl derer, die sich ihr anvertraut hatten, mit den Resten ihrer Habe - vieles war geplündert worden - nach Schlauroth zurück.

Auch auf dem Hof war inzwischen mit Plünderungen und Verwüstungen schlimm gehaust worden. Als Hellmuth Müller-Schlauroth zurückkam, waren die Russen dabei, die für die Görlitzer Bevölkerung eingelagerten Lebensmittelvorräte wegzuschaffen. Ertrug seinen Namen wieder zu Recht: unter Einsatz seines Lebens kämpfte er darum, daß die Saatkartoffeln für den Herbst unangetastet blieben. Auch ließ er alle Möhren, allen Porree, die den Winter über in Mieten gelegen hatten, zu je 2 Pfund bündeln und ungeachtet der lautstarken Proteste der Russen am Hoftor an die Görlitzer verkaufen. Die Görlitzer Straßenbahn schickte 3 Tage lang Extrazüge nach dem nahegelegenen Ort Biesnitz, um die Menschen hinaus- und wieder zurückzubringen.

Kaum war das letzte Gemüsebündel verkauft, wurde Hellmuth Müller-Schlauroth von der russischen GPU verhaftet und in das Gerichtsgefängnis Görlitz gebracht. Nach 7 Wochen wurde er entlassen und 3 Tage später auf offener Straße von einem Funktionär der kommunistischen Partei erneut festgenommen. Am 21.8.45 durfte er, nachdem alle Erkundungen auf dem Hofe und im Dorfe keine Handhabe gegen ihn ergeben hatten, nach Schlauroth zurückkehren. In Görlitz herrschten inzwischen Hungersnot und Typhus.

Am 22. Oktober 1945 wurde das Rittergut Schlauroth im Zuge der ostzonalen Bodenreform, die zunächst alle Güter über 100 ha Grundfläche erfaßte, enteignet. Das Land wurde unter 18 Neusiedlern aufgeteilt. Hellmuth Müller-Schlauroth hatte es zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre bewirtschaftet, und es war so gut wie schuldenfrei. Er, seine Frau und deren Tochter Inge aus ihrer ersten Ehe wurden zusammen mit anderen niederschlesischen Grundbesitzern und -pächtern nach der Insel Rügen deportiert. Es gelang ihm, von dort mit seiner Familie in einem Fischerboot über die Ostsee nach Stralsund und von da nach Westberlin zu entkommen. Dort fand die Familie Aufnahme bei Frau Johanna Bödeker, die ihrerseits 1943 nach ihrer Ausbombung Zuflucht in Schlauroth gefunden hatte und die nun eine enge Notwohnung in Berlin innehatte.

In Berlin arbeitete Hellmuth Müller ein Jahr lang als Bauhilfsarbeiter an der Enttrümmerung und dem Wiederaufbau der Städtischen Oper. Etwa in diese Zeit muß die Ankunft eines Briefes fallen, den einer seiner langjährigen polnischen Arbeiter ihm geschrieben hatte und der ihn auf Umwegen erreichte: der Pole bot ihm an, zu ihm zu kommen und auf Lebenszeit bei ihm zu bleiben. Wenn auch die Annahme dieses Angebots außer Frage stand, so bedeutete es doch eine Freude in dieser Zeit völliger Ungewißheit.

Da Hellmuth Müller mit Leib und Seele Landwirt war, in der Großstadt sich am falschen Platze fühlte und hoffte, auf einem kleineren Hof auch unten dem kommunistischen Regime unangefochten arbeiten zu können, kehrte ertrotz allem seit dem Kriegsende Erlebten im Oktober 1946 wieder in die Ostzone bzw. in den Kreis Görlitz zurück. Er pachtete ein nur 41 ha großes Bauerngut in Siebenhufen, das bombenbeschädigt und verwahrlost war. Als er nach 1 V* Jahren den Hof wieder leidlich in Ordnung gebracht hatte, begann, da ein Kommunist ihn nun haben wollte, das Kesseltreiben gegen den früheren „Großgrundbesitzer" von neuem. Wieder wurde Hellmuth Müller verhaftet und eingesperrt, zuerst im Gerichtsgefängnis Görlitz, dann im Haftlager Bautzen. Nach seiner Entlassung gingen die Anfeindungen weiter. Schließlich wurde er im November 1948 aus dem Landkreis Görlitz (der inzwischen im Landkreis Niesky aufgegangen war) ausgewiesen. Dieses unter Berufung auf eine russische Verordnung, nach der frühere Großgrundbesitzersich im Umkreis von 50 km ihres früheren Besitzes nicht ansiedeln durften. Da er der Ausweisung nicht sofort nachkam, drohte ihm eine neue Verhaftung. Jetzt endlich sah er ein, daß seines Bleibens in der Sowjetzone nicht länger sein konnte. Er floh mit seiner Frau in die Bundesrepublik.

Nun begann der Kampf des Flüchtlings um eine neue Existenz, um eine Wohnung, um einigen Hausrat. Was tut ein Bauer ohne Land? Aus der Fülle dessen, was Hellmuth Müller unternommen hat, nur einiges: er arbeitete als Eisenbieger, er übernahm Vertretungen für Ackerschlepper und andere land­wirtschaftliche Maschinen, er war Lagerverwalter in einem Industriebetrieb, er richtete einen Meilereibetrieb bei Düren in der Eifel ein, er versuchte, sich an einem Gemüsebaubetrieb zu beteiligen, was mangels eines ausreichenden Kredits mißlang. Schließlich hat er in dem von Frau Bödeker geleiteten wirtschaftswissenschaftlichen Institut (für das er in Berlin von 1932 bis zum Zusammenbruch des Reiches als Ratgeber zur Verfügung gestanden hatte und das jetzt in der Eifel seinen Sitz hat) Rentabilitätsprobleme und Landarbeiterfragen bearbeitet.

Seine Ehe hat dem Druck der Nachkriegsnöte nicht standgehalten; 1956 ist sie geschieden worden.

1958 brachte mich eine glückliche Führung wieder mit Hellmuth Müller zusammen. Wir kannten uns seit 1939; ich arbeitete damals in dem eben erwähnten Berliner wirtschaftswissenschaftlichen Institut. Auch das Rittergut Schlauroth kannte ich; das letztemal war ich, kurz ehe es enteignet wurde, dort gewesen. In der Turbulenz der Nachkriegsjahre war die Verbindung mit Hellmuth Müller verlorengegangen; nach unserem Wiedertreffen riß sie nicht wieder ab; im Februar 1960 heirateten wir in Berlin. Ich war nach dem Kriege in dem alten Berliner Verlag Walter de Gruyter & Co. tätig; mein Mann konnte für den Verlag als Hauskorrektor arbeiten. So froh wir waren, daß sein Leben nun in ruhigeren Bahnen lief, so war doch bald zu erkennen, daß es für den leidenschaftlichen Na­turfreund und Landwirt schwer war, in einer engen Großstadtstraße von früh bis abends am Schreibtisch zu sitzen. Da auch ich, obwohl in Berlin geboren, nie ein echter „Großstadtmensch" war, beschlossen wir, daß ich den Beruf aufgeben würde, sobald es wirtschaftlich vertretbar wäre, und wir dann „aufs Land" ziehen würden.

Mein Mann war mir Lehrer und Führer auf dem Wege in die Botschaft. Das war nicht immer ein leichter Weg für mich; um so mehr beeindruckte mich, mit welcher Sicherheit des Empfindens er jeden Satz der Botschaft aufnahm. Wenn er mir etwas erklären wollte, verwendete er Beispiele aus dem Naturgeschehen. Botschaft und Natur waren eine Einheit für ihn.

Im Frühjahr 1965 übersiedelten wir nach Rötz in der Oberpfalz. In unserer sonnigen Wohnung, in unserem schönen, ertragreichen Garten und in der Stille der Oberpfälzer Wälder sind wir sehr glücklich gewesen. Die Trauer um das geteilte Deutschland, um das geliebte Schlesien und um seinen verlorenen Hof hat ihn nie verlassen, aber sie wurde milder in den guten Jahren unseres Zusammenlebens.

Auch ein Charakterzug, der ihm oft zum Vorwurf gemacht worden war, glättete sich allmählich: seine geringe Toleranz gegenüber neueren Anschauungen und neuerer Lebensart. Tolerant zu sein, hieß für ihn, „schwach" oder „feige" zu sein, und da er beides nicht war, vertrat er das von ihm als richtig Angesehene oft zu heftig. In den letzten Jahren war er aber bestrebt, niemanden mehr durch Schroffheit zu kränken. Für sich selber allerdings hielt er unerschütterlich an den Idealen und Anschauungen fest, die in seinen Jugendjahren die gültigen waren.

Sobald 1960 die schwersten Nachkriegsnöte des Entwurzelten überwunden waren, nahm Hellmuth Müller die Verbindung zur Gralsbewegung wieder auf und fuhr auf den Vomperberg. Er war tief enttäuscht über die Entwicklung, die die Bewegung genommen hatte und die er als weit von dem abweichend empfand, was Abd-ru-shin gewollt hat. In Zusammenarbeit mit einigen anderen Anhängern, die sich gleich ihm sorgten, machte er in der Denkschrift vom September 1962 Vorschläge für einen in der Organisation der Gralsbewegung einzuschlagenden neuen Weg.

Die Gralsleitung hat die Vorschläge vehement abgelehnt und Hellmuth Müller unlauterer Motive bezichtigt. Wie weit das von der Wirklichkeit entfernt war, wissen diejenigen, die ihm nahestanden. Einen treueren Jünger hat der HERR nicht gehabt. Hellmuth Müller hat es als die größte Gnade und den größten Segen seines Lebens empfunden, daß er dem HERRN in der Not dienlich sein konnte. Ständig hat ihn im Alter die Frage bewegt, ob er nicht etwas zu tun versäumt habe. Am 5. März 1976, als fast Neunundsiebzigjähriger, hat er noch, getrieben von der Sorge um die Reinerhaltung der Botschaft Abd-ru-shins, einen eindringlichen Brief an die Gralsleitung gerichtet. Eine Antwort hat er nicht bekommen.

Seit 1972 hatten sich zwei Gralsanhänger zu ihm gesellt, die ihm in seinem Bemühen, dem Willen des HERRN auf dem Vomperberg Geltung zu verschaffen, zur Seite standen: Herr Kurt Schlüter aus Mosbach am Neckar und Herr Horst Dühmke aus Berg über Hof/Saale, der nach meines Mannes Tode auch die Anregung zu diesem Bericht gab. Für Hellmuth Müller war den Austausch mit den beiden jüngeren Freunden, die Möglichkeit, jede auftauchende Frage in Rede und Gegenrede zu klären, Hilfe und Freude zugleich.

Am 5. März 1978 besuchte ihn Herr Schlüter, wie er es oft in den letzten Jahren getan hatte. Auf einem Spaziergang am Schwarzwihrberg kreisten ihre Gedanken und Worte wieder um das gemeinsame Anliegen. Niemand ahnte, daß es ihr letztes Gespräch sein sollte.

Am 8. März 1978, mittags 12 Uhr, wurde Hellmuth Müller-Schlauroth von dieser Erde abberufen. Sein oft geäußerter Wunsch wurde ihm erfüllt, bis zum letzten Tage aufrecht und tätig sein zu können. Er hatte kein Krankenlager, und es war ihm ein sanfter Tod ohne Kampf beschieden. Die Todesursache war eine am Vorabend eingetretene Aortenruptur.

Hellmuth Müller-Schlauroth hat in dem Wandel und den Wirren seines fast 81-jährigen Lebens furchtlos und treu sich eingesetzt für das von ihm als recht Erkannte, und er war, seit er die Botschaft Abd-ru-shins kannte, aufs ernsteste bemüht, sie zur Richtschnur für sein Leben und Handeln zu machen. Für das Jahr 1978 (in dem ihm nur 9 Wochen noch zu leben bestimmt waren) hat er als Leitspruch auf der ersten Seite seines Notizbuches die Worte eingetragen, die ich hier in seiner Handschrift anfüge:

Wer in sich festes Wollen zu dem Guten trägt und sich bemüht, seinen Gedanken Reinheit zu verleihen, der hat den Weg zum Höchsten schon gefunden! Ihm wird dann alles andere zuteil.

Vortrag: Was sucht Ihr, Bnd. I S.13, Abs.4

Am 11. März wurde sein irdischer Körper auf dem Rötzer Friedhof der Erde übergeben. Von weither waren viele, die im nahegestanden hatten, gekommen, um ihm das letzte Geleit zu geben. Groß war auch die Anteilnahme der Rötzer Bevölkerung. Auch der katholische Pfarrer von Rötz, der evangelische Geistliche von Waldmünchen und sein Arzt aus Regensburg, der ihn sehr geschätzt hat, folgten seinem Sarge. Die Trauerfeier hielt mein Vetter Heinz Winkelmann, der früher als evangelischer Pfarrer in Berlin gewirkt hat. Freunde von Hellmuth Müller-Schlauroth würdigten seinen Einsatz für Abd-ru-shin und die Gralsbewegung.

Kurt Schlüter sprach:

„Hellmuth Müller-Schlauroth - Nur wenige wissen um die Bedeutung, die in diesem Zusatz Deines Namens liegt.

Man schrieb das Jahr 1938. In diesen Märztagen jähret sich der Beginn Deines Kampfes zum 40. Male! Unter der Gefahr, selbst verhaftet zu werden, befreitest Du in zähen Verhandlungen mit der Gestapo die Persönlichkeit aus dem Gefängnis, die in Deinem Leben eine so einzigartige Bedeutung hatte, und botest ihr irdischen Schutz auf Deinem Rittergut Schlauroth.

In vielen persönlichen Gesprächen vertrautest Du mir Dein Erleben jener Zeit an, und wer Dich kannte, wußte um Deine Sehnsucht zum Licht.

Noch Deine letzten Stunden, in denen ich bei Dir sein durfte, waren erfüllt von Gedanken an das HEILIGE WORT, dessen Reinerhaltung Deine große Sorge war.

Hellmuth Müller-Schlauroth, möge die Treue, die Du dem HERRN aller Welten hieltest, Dir in unserer geistigen Heimat entgegenleuchten!

HERR! Dein Diener kehrt heim!"

Ein Sohn seines 1964 verstorbenen besten Freundes verlas einen von seiner Mutter verfaßten Nachruf:

„Du Getreuester unter den Treuen bist heimgegangen zu Deinem Herrn. Dein Leben war Einsatz für Ihn, Deine täglichen Gebete waren Zwiesprache mit Ihm und waren ein Segen für alle, die sie miterleben durften.

Mit beispiellosem Mut gabst Du Schutz und Geborgenheit. In Dein Leben kam ein Licht, wie es selten einem Menschen geschah. Mit dem Licht kam aber auch das Dunkel, und Du wurdest ein unermüdlicher Kämpfer für das Licht.

Du warst auserwählt vor vielen und hast die Würde und die Bürde dieser Berufung bis zum letzten Atemzuge bewußt und aufrecht getragen. Als ein getreuer Knecht kehrst Du zu neuem Dienste heim."

Sonthofen/AlIgäu Obere Mühle 5 den 12. April 1979

gez. Elisabeth Müller


HELLMUTH MÜLLER-SCHLAUROTH JÜNGER DES HERRN

Rittergut Schlauroth

in den 30er Jahren

Wohnhaus mit Nebengebäuden