12. Die innere Stimme
Die sogenannte „innere Stimme“, das Geistige im Menschen, auf das er hören kann, ist die Empfindung!
Nicht umsonst sagt der Volksmund: „Der erste Eindruck ist immer der rechte.“ Wie in allen diesen und ähnlichen Redensarten und Sprüchen tiefe Wahrheit liegt, so auch hier. Unter Eindruck versteht man durchweg das Empfinden. Was ein Mensch zum Beispiel bei einer ersten Begegnung mit einem ihm bisher Fremden empfindet, ist entweder eine Art Warnung zur Vorsicht bis zum vollständigen Abgestoßensein, oder etwas Angenehmes bis zur vollen Sympathie, in manchen Fällen auch Gleichgültigkeit. Wenn nun dieser Eindruck im Laufe des Gespräches und des weiteren Verkehres durch das Urteil des Verstandes verschoben oder ganz verwischt wird, so daß der Gedanke auftaucht, die ursprüngliche Empfindung sei falsch gewesen, so ergibt sich fast immer am Schlusse solcher Bekanntschaften die Richtigkeit der allerersten Empfindung. Oft zum herben Schmerze derer, die sich durch den Verstand infolge des von anderen vorgetäuschten Wesens hatten irreführen lassen.
Die Empfindung, die nicht an Raum und Zeit gebunden ist und mit dem Gleichartigen in Verbindung steht, dem Geistigen, Ewigen, erkannte in dem anderen sofort die rechte Art, ließ sich nicht täuschen durch die Gewandtheit des Verstandes.
Irrung ist bei der Empfindung völlig ausgeschlossen.
So oft es vorkommt, daß Menschen irregeführt werden, sind es zwei Gründe, die die Irrungen herbeiführen: Entweder der Verstand oder das Gefühl!
Wie oft hört man auch sagen: „Bei dieser oder jener Sache habe ich mich einmal von meinem Gefühle leiten lassen, und bin hineingefallen. Man soll doch nur auf den Verstand bauen!“ Solche begingen den Fehler, das Gefühl für die innere Stimme zu halten. Sie predigen dem Verstande ein Lob und ahnen nicht, daß gerade dieser bei dem Gefühle eine große Rolle spielt.
Darum wachet! Gefühl ist nicht Empfindung! Gefühl geht von dem grobstofflichen Körper aus. Dieser erzeugt Triebe, welche vom Verstand gelenkt Gefühl entstehen lassen. Ein großer Unterschied mit der Empfindung. Die gemeinsame Arbeit des Gefühles und Verstandes aber gebiert die Phantasie.
Wir haben also auf der geistigen Seite nur die über Raum und Zeit erhabene Empfindung *(Vortrag Nr. 86: Empfindung). Auf der irdischen Seite in erster Linie den an Raum und Zeit gebundenen grobstofflichen Körper. Von diesem Körper nun gehen Triebe aus, die sich durch Mitarbeit des Verstandes in Gefühl auslösen.
Der Verstand, ein Produkt des an Raum und Zeit gebundenen Gehirnes, vermag nun wieder als feinstes und höchstes der Materie unter Mitwirkung des Gefühles die Phantasie zu erzeugen. Phantasie ist also das Ergebnis der Zusammenarbeit des Gefühles mit dem Verstande. Sie ist feinstofflich, aber ohne geistige Kraft. Deshalb vermag die Phantasie nur rückwirkend zu sein. Sie vermag immer nur das Gefühl des eigenen Erzeugers zu beeinflussen, niemals aus sich heraus eine Kraftquelle auf andere zu senden. Sie wirkt also nur rückwärts auf das Gefühl dessen, dessen Phantasie sie ist, kann nur zu eigener Begeisterung entflammen, nie auf die Umgebung wirken. Damit ist der Stempel der niederen Stufe deutlich erkennbar. Anders mit der Empfindung. Diese trägt geistige Kraft in sich, schöpferische und belebende, und wirkt damit ausströmend auf andere, diese mitreißend und überzeugend.
Wir haben also auf der einen Seite die Empfindung, auf der anderen Seite Körper-Triebe-Verstand-Gefühl-Phantasie.
Die Empfindung ist reingeistig, steht über Raum und Zeit. Das Gefühl ist feine Grobstofflichkeit, von den Trieben und dem Verstande abhängig, also auf niederer Stufe.
Trotz dieser feinen Grobstofflichkeit des Gefühls kann aber eine Vermischung mit der geistigen Empfindung nie erfolgen, also auch keinerlei Trübung der Empfindung. Die Empfindung wird immer rein und klar bleiben, weil sie geistig ist. Sie wird auch immer von den Menschen klar empfunden oder „gehört“, wenn... es wirklich die Empfindung ist, die spricht! Die größte Zahl der Menschen haben sich aber von dieser Empfindung abgeschlossen, indem sie das Gefühl vorlagerten wie eine dichte Hülle, eine Wand, und halten dann irrtümlich das Gefühl für ihre innere Stimme, wodurch sie viel Enttäuschungen erleben und sich dann um so mehr nur auf den Verstand verlassen, nicht ahnend, daß sie gerade durch die Mitwirkung des Verstandes getäuscht werden konnten. Aus diesem Irrtume heraus verwerfen sie vorschnell alles Geistige, mit dem ihre Erfahrungen absolut nichts zu tun hatten, und schließen sich noch mehr an das Minderwertige an.
Das Grundübel ist wie in vielen anderen auch hierbei immer wieder die freiwillige Unterwerfung dieser Menschen unter den an Raum und Zeit gebundenen Verstand!
Der Mensch, der sich seinem Verstande völlig unterwirft, unterwirft sich damit auch vollkommen den Beschränkungen des Verstandes, der als Produkt des grobstofflichen Gehirnes fest an Raum und Zeit gebunden ist. Somit kettet sich der Mensch dann ganz nur an das Grobstoffliche.
Alles, was der Mensch tut, geschieht von seiner Seite aus und freiwillig. So wird er nicht etwa gekettet, sondern er kettet sich selbst! Er läßt sich vom Verstand beherrschen (denn wenn er nicht selbst wollte, so könnte es nie geschehen), der ihn nach seiner Eigenart auch mit an Raum und Zeit bindet, ihn Raum- und Zeitloses nicht mehr erkennen läßt, nicht mehr verstehen. Deshalb legt sich dabei über die raum- und zeitlose Empfindung durch das beengte Begriffsvermögen eine fest an Raum und Zeit gebundene Hülle, eine Grenze, und der Mensch vermag dadurch entweder gar nichts mehr zu hören, seine „reine, innere Stimme“ ist verhallt, oder er ist nur noch fähig, das mit dem Verstand zusammenhängende Gefühl zu „hören“ an Stelle der Empfindung.
Es erzeugt einen falschen Begriff, zu sagen: Das Gefühl unterdrückt die reine Empfindung; denn nichts ist stärker als die Empfindung, sie ist die höchste Kraft des Menschen, kann nie von etwas anderem unterdrückt oder nur beeinträchtigt werden. Richtiger ist zu sagen: Der Mensch macht sich unfähig dazu, die Empfindung zu erkennen.
Das Versagen liegt immer nur an dem Menschen selbst, nie an Stärke oder Schwäche einzelner Gaben; denn gerade die Grundgabe, die eigentliche Kraft, das Stärkste von allem im Menschen, das alles Leben in sich trägt und unsterblich ist, ist einem jeden einzelnen gleich gegeben! Damit hat niemand dem anderen etwas voraus. Alle Unterschiede liegen lediglich an der Verwendung!
Auch kann diese Grundgabe, der unsterbliche Funke, nie getrübt oder beschmutzt werden! Rein bleibt er auch im größten Schlamme. Nur die Hülle müßt Ihr sprengen, die Ihr Euch selbst durch die freiwillige Begrenzung des Begriffsvermögens auferlegtet. Dann wird er ohne Übergang ebenso rein und klar emporlodern, wie er im Anfang war, sich frisch und stark entfalten und mit dem Licht, dem Geistigen, verbinden! Freut Euch dieses Schatzes, der unantastbar in Euch liegt! Gleichviel, ob Ihr von Eueren Nebenmenschen als wertvoll angesehen werdet oder nicht! Ein jeder Schmutz kann abgeworfen werden, der sich wie ein Damm um diesen Geistesfunken angesammelt hat, durch ehrlich gutes Wollen. Habt Ihr die Arbeit dann getan und den Schatz wieder freigelegt, so seid Ihr ebensoviel wert wie jeder, der ihn nie vergrub!
Doch wehe, wer sich dauernd aus Bequemlichkeit dem Wollen zu dem Guten streng verschließt! Ihm wird zur Stunde des Gerichtes dieser Schatz genommen, und er hört damit auf zu sein.
Deshalb wacht auf, die Ihr Euch abgeschlossen haltet, die Ihr die Decke des Verstandes über Euere Empfindung legtet mit der Begrenzung des Begriffsvermögens! Habt acht und höret auf die Rufe, die Euch treffen! Sei es nun ein gewaltiger Schmerz, starke seelische Erschütterung, großes Leid, oder hohe, reine Freude, das die verdunkelnde Decke niederen Gefühles zu sprengen vermag, laßt nichts derartiges nutzlos an Euch vorübergehen. Es sind Hilfen, die Euch den Weg zeigen! Besser ist es, wenn Ihr nicht erst darauf wartet, sondern mit ernstem Wollen zu allem Guten und zum geistigen Aufstieg einsetzt. Dadurch wird die trennende Schicht bald wieder dünner und leichter werden, bis sie zuletzt zerflattert und der noch immer reine, unbefleckte Funke zu lodernder Flamme emporbricht. Doch dieser erste Schritt kann und muß nur von dem Menschen selbst ausgehen, sonst ist ihm nicht zu helfen.
Dabei müßt Ihr streng unterscheiden zwischen Wünschen und dem Wollen. Mit dem Wünschen ist noch nichts getan, es reicht zu keinem Fortschritt aus. Das Wollen muß es sein, das auch die Tat bedingt, diese schon in sich trägt. Mit dem ernsten Wollen setzt die Tat schon ein.
Wenn auch so mancher dabei viele Nebenwege gehen muß, weil er sich bisher nur an den Verstand gebunden hatte, so scheue er doch nicht davor zurück. Auch er gewinnt! Für ihn gilt es, seinen Verstand zu klären, in dem einzelnen Durchleben aller Nebenwege langsam alles Hemmende abzuschälen und zu lösen.
Deshalb unverzagt voran. Mit ernstem Wollen führt zuletzt ein jeder Weg zum Ziele!